Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Iran bemüht, richtete sein Augenmerk seit 1890 aber zunehmend auf Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht. Die Dynastie war hin und her gerissen zwischen Konzessionen an die Briten, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen, und der Abhängigkeit von den Russen als militärischem Stabilitätsanker. Nachdem der Schah dem deutschen Unternehmer Julius Reuter 1872 erfolglos umfassende Privilegien für den Eisenbahnbau gewährt hatte, erlaubte er den Briten in den 1880er Jahren, eine Notenbank (die Imperial Bank of Persia) zu gründen, und räumte britischen Untertanen Anfang der 1890er Jahre ein nationales Tabakmonopol ein – natürlich alles Konzessionen, die vor allem diejenigen reich machten, die dem Hof nahe standen. Tabakanbau und -handel waren jedoch eine weit verbreitete Wirtschaftstätigkeit, und die Konzession führte zu «den ersten erfolgreichen Massenprotesten im modernen Iran, bei denen Geistlichkeit, Modernisierer, Händler und Stadtbevölkerung gemeinsam gegen die Regierungspolitik vorgingen».[ 144 ] Der Schah wurde 1896 ermordet, und sein Nachfolger Muzaffar al-Din sah sich gezwungen, 1903 seinen konservativen Premierminister abzulösen. Die russischen Revolutionsereignisse von 1905 schwappten auch nach Iran über: Die Region der Aseri in Aserbaidschan, westlich des Kaspischen Meeres, die zwischen Russland und Iran geteilt war, erwies sich als idealer Ort für die sozialdemokratischen und islamischen Organisationsbemühungen, während Teheran von Protesten in Aufruhr versetzt wurde.
Die britischen und russischen Interessen konvergierten dahingehend, dass beide an einer moderaten Lösung der iranischen Unruhen interessiert waren. Die russische Obrigkeit suchte die Agitation im eigenen Land einzudämmen und fühlte sich wie die britische Seite zunehmend von Deutschland bedroht, nicht zuletzt weil Berlin an militärischem und wirtschaftlichem Einfluss im Osmanischen Reich zu gewinnen schien. Briten wie Russen versuchten, als Schutzherren der islamischen Opposition und ihrer Forderung nach einer Madschlis, einem Parlament, aufzutreten. Der Aufstand von 1905 sorgte dafür, dass die Geistlichen nach Ghom flohen und die Händler ihre Läden und Märkte schlossen. Im August 1906, fast ein Jahr nachdem der Zar eine Duma zugelassen hatte, erklärte sich der Schah bereit, eine Madschlis einzuberufen. Diese Versammlung änderte schon bald ihre Rolle: Aus einem muslimischen Kongress, wie ihn sich die konservativen Kleriker vorgestellt hatten, wurde ein nationales Parlament, in dem die Minderheitenreligionen vertreten sein sollten, auch wenn die Wahlen sicherstellen würden, dass es in den Händen des Klerus und reicher Kaufleute blieb. Mit der Wahl zum Madschlis war der Kampf um eine konstitutionelle Regierung jedoch erst zur Hälfte vorbei; die Frage seiner künftigen Rolle war weiterhin offen. Ein zögerlicher Schah unterzeichnete die grundlegenden Gesetze im Dezember 1906, starb jedoch kurz darauf, und die Parlamentsmitglieder, die in unterschiedliche Gruppierungen gespalten waren, bereiteten sich auf die Auseinandersetzung um die alles entscheidende «Ergänzung» zum Grundgesetz vor, welche die Macht des Premierministers und die offizielle Rolle der Religion festlegen sollte. Verfechter der Gewissensfreiheit, Journalisten und westlich orientierte Aristokraten sprachen sich für mehr Rechte des Parlaments aus, während der neue Schah Muhammad Ali und konservative Geistliche dem religiösen Recht weiterhin eine größere Rolle zugestehen wollten. Als ein vorübergehend amtierender Premierminister im August 1907 ermordet wurde, gab der Schah nach und der Verfassungszusatz wurde im Oktober verabschiedet: Er sah ein Machtgleichgewicht zwischen Exekutive und Parlament vor, wobei ein aus religiösen Würdenträgern bestehender Ausschuss sicherstellen sollte, dass die zivile Gesetzgebung im Einklang mit der Scharia, also dem islamischen Recht, stand.
Solange die russische Obrigkeit, die durch die eigene Revolution gewarnt war, allerdings die liberalen Errungenschaften immer weiter einschränkte, und die Briten an einem Strang zogen, konnten sie den Triumph der gemäßigten Konstitutionalisten in Teheran sicherstellen. Tatsächlich trafen die beiden Großmächte 1907 ein entscheidendes Abkommen, das letztlich die schon lange bestehende Besorgnis Londons über die russischen Imperialambitionen ausräumte. Der Vertrag von St. Petersburg sah vor, dass die territoriale Integrität Irans nominell unangetastet blieb,
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