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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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auch um Revolten in weitgehend ländlich geprägten Staaten, wo auf dem Land noch immer die Grundherren das Sagen hatten, während ihre Pächter die Kontrolle über den Grundbesitz für ihre Familie oder (in Teilen Russlands und in Mexiko) für ihre Dorfgemeinschaft verlangten. Eine verspätete Revolution, so glaubten viele Linke, bedeute eine Bauernrevolution – heroisch und apokalyptisch wie auf einem der Wandgemälde von Diego Rivera oder José Clemente Orozco. Tatsächlich aber konnten die Revolutionäre auf dem Land ihre Forderungen nur durchsetzen, wenn sie sich mit den Leuten in der Stadt, ob Mittelschicht oder Arbeiterklasse, zusammentaten. Ohne die Beteiligung von Intellektuellen und Journalisten, Kaufleuten und Finanzvermittlern oder im Falle Irans von Religionsführern in den Städten bestand kaum Aussicht auf Erfolg. Stadt und Land mussten sich irgendwie verständigen, sollte die Revolution gelingen.
    Die russische Revolution von 1905 war im Grunde die letzte der großen europäischen Revolutionen seit 1789, auch wenn sie durch die fiskalischen und sozialen Spannungen ausgelöst wurde, die dem Konflikt mit Japan um die Expansion in Ostasien geschuldet waren. Wie schon nach dem Krimkrieg, als die Obrigkeit die Leibeigenschaft abschaffte, musste Russland Zugeständnisse machen, weil das Imperium überdehnt war. In diesem Fall setzten die Demonstrationen im Februar 1905 und die Schüsse vom Petersburger Blutsonntag eine anhaltende Welle von Protest, Streiks und Parteibildungen in Gang, die am Ende dazu führte, dass sich der Zar im Oktober einverstanden erklärte, ein Parlament – die Duma – einzuberufen. Das konnte nicht wirklich überraschen: Russland war ein Ausnahmefall in der Welt der entwickelten Staaten, weil es theoretisch an einer Autokratie festhielt, was in Wirklichkeit aber die Herrschaft einer aristokratischen Bürokratie bedeutete.
    Liberale Beobachter aus Deutschland, die ihr eigenes Land selbst gefällig weitaus fortschrittlicher einschätzten als den «Despotismus» des Zaren, waren erstaunt, dass die Russen auf einen Schlag eine Volksversammlung bekommen hatten, die nicht durch die reaktionären Vorbehaltsrechte behindert wurde, wie sie das ungleiche preußische Wahlsystem ermöglichte. Natürlich ließ sich diese Errungenschaft nur schwer aufrechterhalten; das Wahlrecht wurde denn auch wieder eingeschränkt, und die Dumas wurden nacheinander aufgelöst, selbst als die sozialen Konflikte und die finanziellen Belastungen in Vorbereitung auf einen möglichen europäischen Konflikt zunahmen. Gleichwohl wurde 1905 in Umrissen das Parteienspektrum sichtbar, das den politischen Raum in Russland besetzen sollte: die Bolschewiki, die sozialdemokratischen Menschewiki, die bäuerlichen «Sozialrevolutionäre», die sich vor allem an die Landbevölkerung wandten, Liberale aus der Mittelschicht (die so genannten Kadetten, die zwar eloquent waren, aber auf die professional classes beschränkt blieben) sowie die konservativen «Oktobristen» – bis alle nach der Machtübernahme der Bolschewiki Ende 1917 zum Schweigen gebracht wurden. Die Ereignisse waren zudem Auslöser für ein Jahrzehnt kultureller Innovation, heftiger politischer und gesellschaftlicher Debatten und anhaltender Industrialisierung.
    Irans «Konstitutionelle Revolution» von 1905 bis 1908 vollzog sich im Schatten der revolutionären Unruhen, die das benachbarte Russland und das Osmanische Reich und damit auch das internationale Machtgleichgewicht erschütterten. Iran, das stagnierende Überbleibsel eines alten und einstmals prachtvollen Großreichs, wurde von der Kadscharen-Dynastie regiert, die sich in einem Land an die oberste Entscheidungsmacht klammerte, das zu einem Drittel oder mehr von Stämmen bewohnt war und in dem religiöse Autoritäten eine wichtige politische Rolle spielten. Die Kleriker der in Iran dominanten Schia wahrten traditionell stärkere Distanz zu den säkularen Autoritäten als die Sunniten, kritisierten allerdings zunehmend die Familientyrannei der Kadscharen, auch wenn sie den Säkularismus der aufkommenden Intellektuellen ablehnten. Das benachbarte Russland sah seinen eigenen vorrangigen Einfluss als gesichert an, weil es nicht zuletzt dabei geholfen hatte, die Truppen des Schahs auszubilden. Großbritannien, das sich lange Zeit vor allem um die russische Expansion und die daraus erwachsende angebliche Gefahr für Indien Sorgen gemacht hatte, hatte sich schon seit längerem um geschäftliche Vorteile in

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