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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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beeinflussen. In Mexiko und im Osmanischen Reich hatten die alternden Patriarchen, die beide 1876 an die Macht gekommen waren, zwar die wirtschaftliche Entwicklung vorangebracht, sich jedoch zunehmend zu herrschsüchtigen Autokraten entwickelt. Sultan Abdülhamid II., der immer mehr wie ein alternder Despot wirkte und seine Herrschaft vor allem mit Hilfe von Polizeispitzeln sicherte, wurde 1909 nach dreißig Jahren aus dem Amt vertrieben, mit einem Staatsstreich, der sein Reich noch mehr zum Objekt territorialer Zerstückelung machte. Porfirio Díaz musste ein Jahr später abtreten.
    Doch diese Autokraten hatten insbesondere die Ausweitung des nationalen Eisenbahnnetzes enorm vorangetrieben, wie das zur gleichen Zeit auch die Beamten in Russland taten. Tatsächlich bildeten die Eisenbahnen die Sehnen und Nervenfasern der Globalisierung: Sie verstärkten die Vorstellung von einem geeinten Territorium; sie ermöglichten die Entwicklung der Märkte im Innern oder den Transport von Soldaten in ferne Gegenden; sie erforderten eine Standardisierung der Zeitzonen. Schon in ihrer Frühzeit in den 1840er und 1850er Jahren hatten Eisenbahnen dazu beigetragen, den revolutionären und nationalen Druck zu erhöhen, ob nun in Preußen, wo zu ihrer Finanzierung ein Parlament einberufen wurde, oder in Illinois, wo sie die Plains für den Weizenanbau erschlossen und die wackligen Kompromisse in Sachen Sklaverei destabilisierten. Jetzt brachten die Eisenbahnen den Veränderungsdruck von globalem Finanzwesen, Investitionen und der Herausbildung von Fernmärkten in die Randzonen der entwickelten Welt. Die Eisenbahnen waren das Gegenstück zu den Grenzen: Die Grenzen zu verteidigen war seit dem 17. Jahrhundert Voraussetzung staatlicher Souveränität – die Grenze war Vorbedingung des Leviathan 1.0. Die Eisenbahn versprach den Binnenraum des Nationalstaats zu einer Einheit zu machen, ökonomisch und gesellschaftlich ebenso wie politisch. Sie war damit das Leitsymbol des Leviathan 2.0. Doch das hatte seinen Preis, und der war oft ein fiskalischer, der schwer auf der Bevölkerung lastete und neue Steuern erforderte wie in Russland oder ausländische Investitionen in völlig neuen Dimensionen wie in Mexiko und im Osmanischen Reich. Und es machte deutlich, dass die Mechanismen der halb entwickelten Staaten, in die die Eisenbahn vordrang, nicht ausreichten, um die Fortschrittsversprechen, mit denen sie warb, zu erfüllen. Schließlich schuf der Eisenbahnbau neue Koalitionen der Privilegierten, bestehend aus neuen und alten Investoren, und neue Koalitionen des Protests, die das Gefühl hatten, von denjenigen, die den monopolisierten Zugang zu Privilegien und Macht kontrollierten, ausgebeutet zu werden.
    Ironischerweise jedoch blieben die nationalen Revolutionen, die als Reaktion auf globalen Druck ausbrachen, oftmals regional zersplittert. Die Politik der nationalen Parlamente geriet rasch in den Hintergrund. Die Schauplätze der Revolution waren oft lokaler Natur, und geeinte nationale Bewegungen entstanden erst nach langen und brutalen militärischen Auseinandersetzungen. Die Macht verlagerte sich auf rivalisierende Militärbefehlshaber, die mitunter das ganze Land unter ihre Kontrolle bringen, mitunter aber auch nur ihr persönliches Herrschaftsgebiet errichten wollten. Die Existenz konkurrierender Armeen und lokaler Militärherrschaft ( warlordism ), die oftmals von mächtigen ausländischen Kräften unterstützt wurden, war eine logische Folge, zumindest für die Dauer einer langen Konfliktphase. Solche regionalen Auseinandersetzungen erwiesen sich häufig als besonders brutal, da die Gefühle von Verrat und Gegenverrat hochkochten. Die Kämpfe entwickelten sich zu lang anhaltenden Fehden. Regionale Kommandeure machten nicht immer Gefangene – was sollten sie mit ihnen tun? –, nahmen allerdings Überläufer in ihre Reihen auf. Die Kriegsgesetze, die in den meisten Fällen nur schwach ausgeprägt waren, zügelten die internen Kämpfe nicht. Die Führer, die lokale Macht erlangten, konnten großzügig, aber auch impulsiv und rachsüchtig sein. In anderen Fällen nahmen neue, rücksichtslose Parteien für sich in Anspruch, sie allein würden die wahren Revolutionskräfte vertreten. Diese Konfrontationen waren oftmals in sich widersprüchlich: Sie mobilisierten Arbeiterklassen, die internationalistisch ausgerichtet waren, und Reformer aus der Mittel- oder Oberschicht, die die Sprache des Nationalismus sprachen. Es handelte sich freilich

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