Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
revidierten Vertrag von Lausanne ausgehandelt hat, welcher das Land innerhalb seiner bestehenden Grenzen stabilisierte. Er trägt noch keinen Anzug und Homburg. Der unermüdliche autoritäre Modernisierer und Säkularisierer seines Landes nahm 1934 den Beinamen Atatürk (Vater der Türken) an.
Betrachten wir abschließend die beiden Revolutionen, die sich, vom Herzen Eurasiens aus betrachtet, an den geographischen Extremen vollzogen: in Mexiko und in China – das eine ein Staat, der immer wieder von Europäern und Nordamerikanern bekämpft wurde, das andere ein ausladendes Imperium, das aus Angst vor seinen Reformern bereit schien, sich wie eine Melone zerstückeln zu lassen. Staaten, die sich noch in der Entwicklung befanden, blieben anfällig, denn Wirtschaftswachstum und Modernisierung ließen die Defizite in Sachen Repräsentation deutlicher hervortreten statt sie zu überwinden. So errichtete der mexikanische Präsident Porfirio Díaz nach der langen Ära von Bürgerkrieg und ausländischer Intervention schrittweise ein autoritäres Regime, das einen privilegierten Kreis von Profiteuren begünstigte, darunter regionale Parteiführer, Industrielle, Großgrundbesitzer und Großrancher. Die herrschende Gruppe wurde allgemein unter dem Namen científicos bekannt, und zwar wegen des Wirtschaftswachstums, das unter ihrer Ägide durch die Öffnung des Landes für europäische und amerikanische Investitionen in Industrie, Bergbau und Eisenbahnen zu verzeichnen war. Doch die riesigen Gewinne flossen der begünstigten Elite zu.
Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts sorgte dafür, dass eine ganze Reihe von Unzufriedenen ein Mitspracherecht in Regierungsangelegenheiten verlangte: die liberale Mittelschicht, die vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert hatte, eine wachsende Arbeiterklasse in den Industriestädten des Nordens, Verfechter von Gemeinschaftsrechten für die Indios, die seit den liberalen Siegen der 1850er Jahre immer weiter eingeschränkt worden waren, und rivalisierende Generäle. Díaz ging mit aller Härte gegen die Gewerkschaften vor; Unternehmer aus der Mittelschicht wandten sich gegen ausländische Firmen, die ihnen verschlossen blieben, mächtige Familien in den Regionen nahmen Anstoß an der Klientel, die er begünstigte.
Nach dem stetigen Zuwachs bei den Investitionen aus dem Ausland (was zu inflationären Preissprüngen und einem deutlichen Rückgang der Reallöhne im Norden des Landes führte) kam es im Zuge der Panik in den USA 1907 zu einem Wirtschaftsabschwung. Der Oligarchie gelang es, die manipulierten Kongresswahlen 1910 mit befremdlicher Einstimmigkeit zu gewinnen. Doch eine Revolution schien in den Augen der meisten Beobachter ausgeschlossen zu sein – wobei diese Einschätzung am Vorabend großer Aufstände offenbar nichts Ungewöhnliches ist, wie die Geschichte von 1789 über den Umsturz in Osteuropa 1989 bis zur «Arabellion» in Ägypten 2011 gezeigt hat –, bis Ende 1910 in Chihuahua ein lokaler Aufstand losbrach. Der Oppositionsführer Francisco Madero, ein reicher Rancher, der das Regime kritisiert hatte, tat sich mit den Rebellen zusammen und akzeptierte schließlich eine Vereinbarung, wonach der nunmehr allein dastehende Díaz vor der Präsidentschaftswahl im Oktober 1911 zurück treten sollte. Madero triumphierte, doch was folgte, war ein politischer und territorialer Zerfallsprozess – keine kohärente soziale Revolution, sondern, so John Womack, «ein Machtkampf, in dem verschiedene Revolutionsfraktionen nicht nur gegen das alte Regime und ausländische Unternehmen kämpften, sondern öfter noch gegeneinander, und zwar aus Gründen, die so wichtige Dinge wie die Gesellschaftsklassen betrafen, oft aber auch aus ganz banalen Motiven wie purem Neid […].» Betrachtet man, was dabei herauskam, so «gelang es der siegreichen Fraktion, die Bauernbewegungen und die Gewerkschaften zu dominieren und ausgewählte amerikanische und einheimische Geschäftsfelder zu fördern».[ 148 ]
Das heißt nicht, dass andere Gruppen nicht ihre eigenen, anders gelagerten Interessen gehabt hätten; tatsächlich wurden diese Interessen so standhaft verteidigt wie überall sonst in diesem turbulenten Jahrzehnt, aber sie blieben zersplittert, konzentrierten sich auf eine oder mehrere der regional verankerten Truppen (die oft lokal ebenfalls wieder zersplittert waren), die sich um die nacheinander nach der Macht strebenden Anführer scharten: Victoriano Huerta, der im Auftrag konservativer
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