Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
ohne lokale Gewalt hätte aussehen können – genau das aber war die Situation, die 1914 den allgemeinen Krieg auslöste. Die Habsburger konnten ihre Territorien nicht so einfach in eine Konföderation von Nationalitäten umwandeln. Die Deutschen in der österreichischen Hälfte hätten das vermutlich zugelassen, doch die Ungarn hätten sich dem widersetzt, und ob die Rumänen und Südslawen außerhalb des Habsburgerreichs einen solchen Kompromiss für ihre eigene Irredenta akzeptiert hätten, ist durchaus fraglich. Wäre ohne Krieg eine wiederhergestellte und souveräne polnische Nation entstanden? Betrachtet man die Alternativen, so merkt man, dass lokale Zusammenstöße auch im besten Fall wohl nur schwer zu vermeiden gewesen wären, wenngleich ein besseres Krisenmanagement zumindest die fatale Verwicklung der Großmächte verhindert hätte, die dafür verantwortlich war, dass sich eine neue Balkankrise zum Ersten Weltkrieg auswuchs. Wäre der osmanische Staat – der seit 1908 von einer Partei regiert wurde, die Subversion von Seiten all der nicht-türkischen Völker fürchtete, die sie zu kontrollieren versuchte – von langem Krieg und Zerfall verschont geblieben? Der Kompromiss, den die britische Regierung in Südasien mit Hindus und Muslimen der Oberschicht geschlossen hatte, wäre nach und nach aufgelöst worden, wie das dann ab den 1930er Jahren auch geschah.
Historiker stellen die Entkolonialisierung üblicherweise als Folge des Zweiten Weltkriegs dar, als epochale Transformation, die zum Teil durch die zwischenzeitliche Niederlage und finanzielle Erschöpfung der europäischen Kolonialmächte erzwungen wurde. Tatsächlich finden sich die entscheidenden Wendepunkte schon früher. Ende der 1920er Jahre trat eine neue Generation junger Nationalisten auf den Plan, welche die klientelistischen Vereinbarungen ihrer Älteren mit den europäischen Herrschern satt hatten. Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre brachte ihr Elend dann nicht nur nach Europa und Nordamerika, sondern auch in die Kolonialökonomien. Zu den nationalistischen Gefühlen kamen als weitere potentielle Herausforderung des Kolonialstaats häufige Arbeiterunruhen in Städten und Plantagen. Mitte der 1930er Jahre lauteten die Alternativen: eskalierende Gewalt oder Reformbemühungen, welche letztlich zu mehr Selbstverwaltung führen mussten, als die Reformer selbst zugeben wollten.[ 154 ] Natürlich hätte die Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit vielleicht nicht solche Ausmaße angenommen, hätte der Krieg von 1914 bis 1918 das internationale Finanzwesen und den internationalen Handel nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen. Historische Ursachen sind immer kumulativ und sequentiell.
Stabilität und Repräsentation ohne Mehrparteiendemokratie wären für viele Staaten von Vorteil gewesen. Eine Einparteienherrschaft, wie sie in Mexiko und später dann in vielen Kolonialstaaten entstand, hätte gespaltenen Gemeinwesen zumindest für eine Übergangsphase Stabilität verliehen. Nicht alle derartigen Einparteiensysteme weisen zwangsläufig repressive Strukturen auf: Einige lassen es zu, dass außenstehende Gruppen andere Meinungen vertreten, und können zumindest für ein oder zwei Generationen verschiedene gesellschaftliche Strömungen und Ideen repräsentieren. Der Erste Weltkrieg schloss solche Entwicklungen nicht aus. Gleichwohl deuteten schon vor dem Krieg radikalere Parteiansprüche in einigen Staaten, die sich in Schwierigkeiten befanden, auf ein andersartiges Resultat hin. Der russische Bolschewist Wladimir Iljitsch Lenin vertrat in seiner 1902 erschienenen Schrift Was tun? (die mit ihrem Titel auf den berühmten, vierzig Jahre zuvor erschienenen Roman eines russischen Radikalen anspielte) die Ansicht, die Revolution erfordere eine zentralisierte politische Partei, die unerschütterliche Disziplin verlange. Die eine Partei sprach angeblich für das Proletariat, vermittelte der Arbeiterklasse revolutionäres Bewusstsein, ja, sie nahm sogar für sich in Anspruch, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu sein, und rief zur revolutionären Diktatur im Namen des Proletariats auf.[ 155 ] Später sollte Lenin für kurze Zeit mit der Idee spielen, eine bolschewistische Utopie werde letztlich das Ende des traditionellen Staates bedeuten, doch die in seinem Traktat skizzierte harte Politik blieb der Leitfaden für die absehbare Zukunft. Die bolschewistische Partei sollte die autoritäre Diktatur anführen, die Russland (und sein neu strukturiertes
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