Geschichte des Kapitalismus
weiter entwickelnden ökonomischen Realität vereinbart werden konnten. Es gab überdies viele Methoden, das Zinsverbot zu umgehen und das lukrative Kreditgeschäft auch für Christen zugänglich zu machen. Die kirchliche Morallehre entwickelte auch gegenläufige Argumente, die Tausch, Gewinn und Wohlstand als berechtigte Entschädigungen für Unsicherheit und Mühen der Kaufleute wie auch als nützlich für das Gemeinwohl interpretierten.
Aber es bleibt ein bemerkenswertes Phänomen, dass sich im christlich geprägten Mittelalter der Kapitalismus in Europa nur gegen verbreitetes Misstrauen, moralische Ablehnung und auch intellektuelle Kritik durchsetzen konnte. Die Kaufleute trugen dem teilweise Rechnung, und zwar durch religionskompatible Lebensführung und Symbolik, durch ausgeprägte Spenden- und Wohltätigkeit, oft auch durch die «letzte BuÃe» im hohen Alter in Form groÃer Vermögensübertragungen an Klöster und Kirchen. Die Angst vor den Höllenqualen wird auch die Geisteshaltung vieler mittelalterlicher Kaufleute geprägt haben, von denen die allermeisten, trotz aller Weltlichkeit, treue Christen waren. Doch die Dynamik des Kaufmannskapitalismus wurde durch den Antikapitalismus der christlich geprägten öffentlichen Moral kaum gebremst, wie auch in späteren Jahrhunderten die allzeit verbreitete Kapitalismuskritik die praktische Verbreitung des Kapitalismus nur sehr selten beeinträchtigt hat.[ 31 ]
4. Zwischenergebnis um 1500
Der Kaufmannskapitalismus war im Jahrtausend zwischen 500 und 1500 kein spezifisch europäisches, sondern ein globales Phänomen. Ãber die geschilderten Fälle Chinas, Arabiens und Europas hinaus fand er sich auch in anderen Weltgegenden, vor allem in Indien und Südostasien.[ 32 ] Offensichtlich entwickelte er sich unter sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Bedingungen. Im globalgeschichtlichen Vergleich kam Europa spät und blieb lange rückständig, was die Ausbildung kapitalistischer Verhaltensweisen und Institutionen angeht. Das widerspricht der eurozentrischen oder doch west-zentrierten Perspektive, die sehr lange vorgeherrscht hat und gängige Zusammenfassungen zur Geschichte des Kapitalismus im Westen bis heute prägt. Es ist falsch, den Beginn des Kapitalismus erst mit dem 12. Jahrhundert zu datieren, denn in Arabien und China existierte er zu diesem Zeitpunkt längst.
Die Kapitalismen in den hier behandelten Weltregionen China, Arabien und Europa existierten nicht in Isolation voneinander. Vielmehr fanden gegenseitige Wahrnehmungen und Beeinflussungen statt, und zwar schon in der Zeit, die im Westenals Hochmittelalter verstanden wird. Was die Geschichte der Kapitalismen betrifft, hat Europa mehr von den anderen gelernt und übernommen als umgekehrt. Auch das widerspricht lange gängigem europäischen Selbstverständnis. Aber die Verflechtungen waren nicht intensiv genug, um bereits für die Zeit um 1200 oder 1300 von einem «Weltsystem» sprechen zu können.[ 33 ]
Wenngleich die kapitalistische Entwicklung in Europa hinter der in China und Arabien hinterherhinkte, erscheint sie doch bald als die dynamischere. Das zeigt sich vor allem am deutlicheren
Ausgreifen
des zunächst vor allem den Fernhandel prägenden Kapitalismus in andere Bereiche hinein: in das entstehende Finanzwesen einschlieÃlich der Finanzierung politischer Mächte wie in die Sphäre der Produktion, vor allem in der Hausindustrie. Die Ursachen dieser in Europa ausgeprägteren Dynamik sind hier nicht genauer auszuleuchten. Religionsgeschichtliche Erklärungen kann man ausschlieÃen. Denn die Morallehre des Christentums stellte sich den kapitalistischen Ansätzen im mittelalterlichen Europa entschiedener und hemmender in den Weg als es der Islam seit dem 7. Jahrhundert in Arabien und die ostasiatischen Religionen seit dem 10. Jahrhundert in China taten. Auch die Ausbeutung nicht-europäischer Ressourcen durch Europa kann für die Zeit bis 1500 nicht als Erklärungsfaktor herangezogen werden. Zweifellos spielten verschiedene Faktoren eine Rolle. Als entscheidend erweist sich jedoch das Verhältnis von Wirtschaft und Staat, von Marktprozessen und politischer Macht, zumindest im chinesisch-europäischen Vergleich, und zwar schon für die frühe Phase vor Beginn der europäischen Expansion in andere Weltteile.
Weder in China noch in
Weitere Kostenlose Bücher