Geschichte des Kapitalismus
groÃe Bedeutung der aktiven Rolle staatlicher Regierungen, der Kolonialisierung und der Protoindustrialisierung geradezu auf. Diese drei Faktoren fehlten in China oder traten dort in deutlich anderer Form auf.[ 61 ] Auf dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis ist deutlich, dass der Kapitalismus in einer über den Kaufmannskapitalismus hinausgehenden Form und mit systemprägender Kraft um 1800 ein Phänomen Europas war, das in voller Ausprägung aber nur in Nordwesteuropa existierte, so sehr es zugleich von weltweiten Verflechtungen ermöglicht und mitbedingt worden war.
IV. Der Kapitalismus in seiner Epoche
So wenig sich der Fortschrittsoptimismus der Aufklärungszeit halten konnte, so wenig überdauerte die Deutung des Kapitalismus als Kern einer zivilisatorischen Mission. Diese Deutung war auf dem Boden des vorindustriellen Kapitalismus im18. Jahrhundert entstanden, den Aufstieg des Industriekapitalismus überlebte sie nicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten sich Intellektuelle wie Sombart und Weber von der überlegenen ökonomischen Rationalität des Kapitalismus überzeugt, aber als Motor moralischen Aufstiegs und zivilisatorischen Fortschritts sahen sie ihn nicht. Im Gegenteil, Liberale wie Weber fürchteten die zunehmende Zwanghaftigkeit und Sinnentleerung des kapitalistischen Systems, das Freiheit, Spontaneität und volle Menschlichkeit gefährden könne. Konservative und Linke fürchteten den Kapitalismus als unaufhaltsame Kraft der Erosion, die überkommene Sitten durch Verträge, Gemeinschaft durch Gesellschaft und soziale Bindung durch Marktkalkül ersetze. Die sozialistische Kritik geiÃelte Ausbeutung, Entfremdung und Ungerechtigkeit im Kapitalismus, während sie seinen Zusammenbruch aufgrund innerer Widersprüche voraussagte. Heute schwankt die Haltung zum Kapitalismus zwischen nüchterner Akzeptanz und scharfer Kritik. Viele halten ihn für untauglich, den Herausforderungen der Zukunft zu genügen. Als Utopie scheint die Idee des Kapitalismus ausgedient zu haben, jedenfalls in Europa. Das Ziel dieses Kapitels ist es, diesen Umschlag zu verstehen und Gesichtspunkte für seine Beurteilung bereitzustellen.
1. Industrialisierung und Globalisierung.
Konturen seit 1800
Zwar setzten sich die Entwicklungen der vorausgehenden Jahrhunderte zwischen 1800 und 2000 teilweise fort. Der
Agrarkapitalismus
eroberte sich neue Regionen, als â wie fast überall im 19. Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent â die Feudalordnung schrittweise beseitigt wurde. Im 20. Jahrhundert steigerte er sich zum globalen «Agrobusiness». Mit zunehmender Verstädterung und der Revolutionierung von Verkehr, Transport und Kommunikation gewann der
Handelskapitalismus
im 19. und 20. Jahrhundert immens an Gewicht; die dynamische Entwicklung des Massenkonsums vor allem im 20. Jahrhundert eröffnete ihm neue, hochprofitable und das Leben der Vielen verändernde Dimensionen, über die Warenhäuser und Diskontgeschäftebis hin zu den groÃen Einzelhandelskonzernen der Gegenwart. Wenig ging ohne den schon im 18. Jahrhundert etablierten, sich nun ausdehnenden und ausdifferenzierenden
Finanzkapitalismus
mit Banken, Börsen und Versicherungen, später mit Investmentgesellschaften und Anlagefonds als wichtigsten Institutionen; im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert erlebte er einen exorbitanten Ausbau, ohne den die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 vermutlich vermieden worden wäre. Aber das nach 1800 umwälzend Neue war die
Industrialisierung
,[ 62 ] die neben vielem anderen auch den Kapitalismus tief veränderte. Der gewann als Industriekapitalismus eine neue Qualität.
«Industrialisierung» meint einen komplexen und tiefgreifenden sozialökonomischen Wandlungsprozess, in dessen Kern â miteinander verknüpft â dreierlei stand: einmal technisch-organisatorische Neuerungen von der Entwicklung der Dampfmaschine und der Maschinisierung des Spinnens und Webens im 18. Jahrhundert bis zur Digitalisierung von Produktion und Kommunikation im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert; zum anderen die massenhafte Ausbeutung neuer Energiequellen (zunächst Kohle, später Elektrizität aus unterschiedlichen Quellen, dann Ãl, Atomkraft und erneuerbare Energien), die das Verhältnis von Mensch und Natur grundsätzlich geändert und gefährdet hat; sowie
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