Geschichte des Kapitalismus

tiefen Krisen zu erinnern, die wie 1873, 1929/30 und 2007/08 als Finanzkrisen zu entstehen pflegen, jedoch schwerwiegende Folgen für die «Realwirtschaft» nach sich ziehen, die Wohlfahrt breiter Bevölkerungsschichten beeinträchtigen und zu sozialen und politischen Erschütterungen führen können. Gleichermaßen ist aber auch auf die langfristig polarisierenden Wirkungen gerade des erfolgreichen Kapitalismus hinzuweisen. Ich meine nicht nur den bekannten Zusammenhang von Industrialisierung, Lohnarbeit und Arbeiterprotesten, der zu gesellschaftlicher Polarisierung führt, wenn nicht sozialstaatlich gegengesteuert wird. Vielmehr sind auch Befunde aus den frühneuzeitlichen Niederlanden, aus der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts wie aus den letzten Jahrzehntenzu nennen, die zeigen, dass kapitalistisches Wachstum, wenn nicht kompensatorisch gegengesteuert wird, zwar nicht zu massenhafter Verarmung führt – ganz im Gegenteil –, aber mit zunehmender Einkommens- und
Vermögensungleichheit
Hand in Hand geht. Exorbitant hohe Managereinkünfte, deren Vorsprung vor den durchschnittlichen Einkommen in den letzten Jahrzehnten schwindelnde Höhen erreicht hat, sind nur ein kleiner, aber sehr sichtbarer und besonders irritierender Teil einer komplexen Zunahme von Ungleichheit, die besonders in demokratischen politischen Kulturen als ungerecht wahrgenommen wird und langfristig die Legitimität des Systems in Frage stellen kann. Auf weitere problematische Folgen des Kapitalismus wird im abschließenden Abschnitt verwiesen.[ 101 ]
    Die historischen Erfahrungen zeigen, dass die destabilisierenden gesellschaftlichen Folgen des Kapitalismus mit staatlichen Mitteln zumindest gelindert werden können, wenn ein Gemeinwesen in der Lage ist, solche Mittel auch gegen Widerstand zu mobilisieren und mit Augenmaß einzusetzen. In dieser Hinsicht steigt der Bedarf an kompensatorischer und präventiver staatlicher Intervention langfristig an, zumal die Sensibilität, das Anspruchsniveau und die Artikulationsfähigkeit der politisch wirksamen Öffentlichkeit vielerorts gewachsen sind und weiter wachsen dürften. Es liegt auf der Hand, dass die Existenz oder das Fehlen einer Protestkultur, der Entwicklungsstand der politischen Öffentlichkeit und die Eigenarten des politischen Systems sehr stark darüber mitentscheiden, ob ökonomische und soziale Missstände zu sozialen Bewegungen und staatlichen Interventionen führen, die, falls erfolgreich, die Sozialverträglichkeit des Kapitalismus steigern und damit seine Überlebensfähigkeit verbessern können. Der Aufstieg des Sozialstaats seit dem späten 19. Jahrhundert ist das beste Beispiel dafür. Ein analoger Prozess zur Zivilisierung des heutigen Kapitalismus wird dadurch erschwert, dass dem zunehmend grenzüberschreitend wirksamen, zunehmend globalen Kapitalismus keine ähnlich grenzüberschreitende, globale Staatlichkeit entspricht, die seiner weiterhin vehementen Dynamik wirklich Paroli bieten könnte: ein ungelöstes Problem.

Verzeichnis zitierter Literatur
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    Bell, D., The Cultural Contradictions of Capitalism, New York 1979
    Berend, I. T./R. Schubert, Markt und Wirtschaft.