Geschichte des Kapitalismus
Sektoren und staatlicher Rahmenplanungen, Ansätze zu zwischenstaatlicher Koordination auf globaler Ebene â war das dritte Viertel des 20. Jahrhunderts
die
Hochphase des Organisierten Kapitalismus. Diese intensive Verflechtung von Markt und Staat hat Anlass geboten, von einer «gemischtwirtschaftlichen» Ordnung zu sprechen â in doppelter Abgrenzung vom älteren Wirtschaftsliberalismus wievom zentralverwaltungswirtschaftlichen System unter sowjetischer Hegemonie, das auf die Such-, Findungs- und Allokationsleistungen des Marktes weitgehend verzichtete, langfristig zu seinem Schaden.[ 97 ]
Seit den späten 1970er Jahren begann dagegen eine Phase des «Revitalisierten Marktkapitalismus» (James Fulcher), der durch «neoliberale», die Selbstregulierungskräfte des Marktes hochschätzende Theorien, gezielte Deregulierungs- und Privatisierungsschübe und einen gewissen Rückbau sozialstaatlicher Leistungen Haupttendenzen der vorangehenden Jahrzehnte umwendete und zugleich eine Gewichtsverschiebung von der organisierten Arbeiterschaft hin zur Kapitalseite einleitete. Zu den Ursachen dieser Trendwende gehörte zweifellos die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre, die mit dem Doppelproblem von Massenarbeitslosigkeit und Geldwertverlust («Stagflation») die Grenzen der Problemlösungsfähigkeit des bis dahin dominanten Systems des Koordinierten Kapitalismus nachdrücklich aufwies. Unter den weniger offensichtlichen, aber grundsätzlicheren Ursachen ist vor allem die rasch zunehmende globale Konkurrenz zu nennen, die die alten Industriestaaten mit ihren hohen Lohn- und Arbeitskosten unter erheblichen Druck setzte. Es kam hinzu, dass der Koordinierte Kapitalismus der vorangehenden Jahrzehnte zu seinem Funktionieren ein Ausmaà an gesellschaftlicher Konsensfähigkeit voraussetzte, das in einigen Ländern zunehmend erodierte, so beispielsweise in England, das seit Ende der siebziger Jahre, bald zusammen mit den USA, zum Pionierland der Trendwende wurde. Auch der Zeitgeist veränderte sich, weg von Organisation und Solidarität als Leitwerten, hin zur Individualisierung und Hochschätzung von Vielfalt und Spontaneität. Der Aufstieg des Konsumkapitalismus passte dazu. Der Zusammenbruch des Ostblocks wurde als Beleg für die Ãberlegenheit der Marktkräfte gedeutet. Er beseitigte überdies die groÃe Herausforderung einer nicht-kapitalistischen Alternative, die während des Kalten Kriegs bei manchem Vertreter der Kapitalseite und vielen politischen Akteuren die Bereitschaft erhöht hatte, auf Arbeiterforderungen stärker einzugehen und die Entwicklung hin zu einer sozialeren Marktwirtschaftmitzutragen, um gegen radikalere Veränderungen vorzubauen.
Zu einer wirklichen Zurückdrängung des Staates kam es zwar nicht, ganz im Gegenteil. Auf dem europäischen Kontinent und erst recht in Ostasien folgte man dem anglo-amerikanischen neoliberalen Modell nur zögernd. Der Rückbau der Sozialleistungen hielt sich beispielsweise in der Bundesrepublik auch im letzten Jahrzehnt des 20. und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in sehr engen Grenzen, die viel beschworene «Wende» fand niemals statt. Hier wie anderswo blieb der Widerstand gegen die Neoliberalisierung des Kapitalismus ungebrochen, die Staatsquote hoch. Doch die
Deregulierung
gewann international an Boden, vor allem im Bereich der Finanzwirtschaft und als Teil der sich durchsetzenden Finanzialisierung.[ 98 ]
Ob die Internationale Finanzkrise seit 2008 die Phase des «revitalisierten Marktkapitalismus» beendet hat, bleibt abzuwarten. Sie hat die intellektuelle und politische Legitimation des Neoliberalismus zutiefst erschüttert. Denn zweifellos ist die Deregulierung des Finanzsektors eine wichtige Ursache des finanzwirtschaftlichen Zusammenbruchs von 2008 gewesen, der in den Führungsländern des marktradikalen Finanzkapitalismus, in den USA und England, seinen Ausgang nahm. Und die neoliberalen Grundüberzeugungen â Autonomie und Selbstregulierungsfähigkeit der Märkte â wurden von den zentralen Akteuren des Finanzkapitalismus selbst dementiert und diskreditiert, als sie in der Krise von 2008 die Staatsregierungen geradezu flehentlich drängten, mit riesigen Hilfszahlungen ihren endgültigen Kollaps abzuwenden, was diese â mit dem Argument «too big to fail» â denn auch taten. In der Folge wuchsen die Staatsschulden sprunghaft
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