Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
aber ohne Wissen und Ermächtigung des Königs, in einem Abkommen mit dem russischen General von Diebitsch, der Konvention von Tauroggen, ein von ihm, Yorck, befehligtes Armeekorps auf befristete Neutralität festlegte und damit aus dem erzwungenen preußisch-französischen Beistandspakt herauslöste. Vorausgegangen war das Versprechen des Zaren, Rußland werde den Krieg mit dem Ziel der Wiederherstellung Preußens und der Befreiung Europas fortsetzen. König Friedrich Wilhelm III. benötigte noch drei Wochen, um sich an die Spitze derer zu stellen, die den Bruch mit Frankreich betrieben. Am 22. Januar 1813 begab sich der Monarch aus dem französisch besetzten Berlin nach Breslau. Von dort ergingen am 3. Februar ein Aufruf zur Bildung von freiwilligen Jägerbataillonen, sechs Tage später ein Erlaß über die Aufhebung aller Befreiungen von der (nur eingeschränkt geltenden) Wehrpflicht und schließlich am 12. Februar die Anordnung der Mobilmachung.
Inzwischen waren die Verhandlungen über ein Bündnis zwischen Preußen und Rußland weit gediehen. Die beiden Mächte verständigten sich darauf, daß das Zarenreich einen großen Teil der bis 1807 preußischen Gebiete Polens erhalten sollte, während Preußen mit norddeutschem Territorium, unter ausdrücklichem Ausschluß von Hannover, zu entschädigen war. Auf dieser Grundlage beruhte der Bündnisvertrag, der am 27. Februar in Breslau von Staatskanzler von Hardenberg und tags darauf im russischen Hauptquartier in Kalisch von Marschall Kutusov unterzeichnet wurde.
Gut zwei Wochen später, am 15. März, zog Zar Alexander in Breslau ein. Unmittelbar darauf erklärte Preußen Frankreich den Krieg. Es folgte am 17. März König Friedrich Wilhelms in volkstümlicher Sprache gehaltener «Aufruf an Mein Volk!», in dem es hieß, die Opfer des Einzelnen wögen die heiligen Güter nicht auf, «für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu sein». Es war dieser Appell an die preußische und die deutsche Ehre, der Fichte den Anstoß zu dem «Entwurf einer politischen Schrift vom Frühlinge 1813» gab. Abermals eine Woche später, am 25. März, verkündete Kutusov die von Karl Nikolas von Rehdiger, einem Mitarbeiter des Freiherrn vom Stein, verfaßte «Proklamation von Kalisch». Sie verhieß den «Fürsten und Völkern Deutschlands» die Rückkehr zu Freiheit und Unabhängigkeit und die «Wiederkehr eines ehrwürdigen Reichs», ja sogar eine Verfassung für das wiedergeborene Deutschland. Diese sollte ein Werk «aus dem ureigenen Geiste des deutschen Volkes» sein – ein Werk, über das der «Kaiser aller Reußen» seine schützende Hand zu halten versprach.
Fichte, Jahn und Arndt hatten dem «Geist von 1813» vorgearbeitet. Aber auf dem platten Land und im «einfachen Volk» war der preußische Patriotismus stärker als der deutsche Nationalismus. In die Freikorps strömten keineswegs nur oder vorwiegend, wie es die Legende will, Studenten, sondern vor allem junge Bauern und Handwerker. In der Landwehr, die aus Wehrfähigen im Alter von 17 bis 40 Jahren gebildet wurde, war das erst recht so. Die Linientruppen, die Freiwilligen in den Jagdformationen und die Männer der Landwehr zogen «mit Gott für König und Vaterland» in den Krieg: So lautete die Formel, die Friedrich Wilhelm III. selbst geprägt hatte. Er und die 1810 verstorbene Königin Luise verkörperten das Vaterland, daneben auch der Große Kurfürst und Friedrich der Große, nicht aber «Hermann der Cherusker» oder die weibliche Symbolfigur der «Germania», die erst in jener Zeit zum Sinnbild der Einheit des deutschen Volkes aufzusteigen begann.
Auch die Reformer an der Spitze des preußischen Staates waren keine deutschen Nationalisten im Sinne von Fichte, Jahn und Arndt. Der Freiherr vom Stein stand mit allem, was er zwischen 1807 und 1815 über die Zukunft Deutschlands niederschrieb, dem altertümlich wirkenden deutschen Patriotismus der politischen Romantiker näher als den «modernen» deutschen Nationalisten. Zu keiner Zeit verfolgte er die Absicht, Österreich unter Preußen auf den zweiten Platz zu verweisen; er wünschte vielmehr ein gutes Einvernehmen zwischen den beiden deutschen Großmächten und eine Zurückdrängung des Einflusses der übrigen deutschen Fürsten. «Die feste, durchgängige, nie unterbrochene übereinstimmung und Freundschaft Österreichs und Preußens» als Schlußstein eines deutschen «Staatenvereins», einer freien und
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