Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Schäden, die die Kontinentalsperre der russischen Wirtschaft zufügte. Sie veranlaßten Alexander Ende 1810 zu einer drastischen Kehrtwende seiner Handelspolitik: Durch einen Ukas verfügte er, daß Schiffe, die unter neutraler Flagge fuhren und Waren aus England an Bord hatten, russische Häfen anlaufen durften. Gleichzeitig wurden französische Luxusgüter mit hohen Einfuhrzöllen belegt. 1811 ging der Zar dazu über, unverzollte französische Waren beschlagnahmen und vernichten zu lassen und damit dasselbe zu tun, was Napoleon mit russischen Waren schon seit längerem machte. Rußland und Frankreich führten mithin einen Wirtschaftskrieg gegeneinander, und spätestens seit 1811 bereiteten sich beide Mächte auch diplomatisch und militärisch auf einen Krieg vor.
Im April 1812 schloß Rußland einen Bündnisvertrag mit Schweden ab. Einen der Gründe dieser Allianz hatte Napoleon mit der Besetzung von Schwedisch-Vorpommern, einen Bernadotte und die schwedische Öffentlichkeit provozierenden Akt, geliefert. Angesichts der Tatsache, daß Schweden nur drei Jahre zuvor nach einem vom Zarenreich begonnenen und gewonnenen Krieg Finnland an die siegreiche Macht im Osten hatte abtreten müssen, war der Pakt zwischen St. Petersburg und Stockholm dennoch eine überraschende Wende. Im folgenden Monat schloß der Zar Frieden mit dem Osmanischen Reich und beendete damit einen überaus kostspieligen Balkankrieg, der fast sechs Jahre gedauert hatte und Rußland den Besitz Bessarabiens einbrachte.
Zu den Kriegsvorbereitungen auf französischer Seite gehörte ein Anfang März ratifizierter Vertrag, in dem Preußen Napoleon den freien Durchmarsch seiner Truppen, die Verfügung über ein Hilfscorps von 20.000 Mann und das Recht auf Requisitionen zugestand. Im Mai war der militärische Aufmarsch im wesentlichen abgeschlossen: An der Grenze zu Rußland standen über 400.000 Soldaten der Grande Armée, die aus allen Teilen des von Napoleon beherrschten und mit ihm verbündeten Europa kamen. In einer Proklamation aus dem Kaiserlichen Hauptquartier in Wilkowyszki behauptete Napoleon am 22. Juni 1812, ein vertragswidriges Zusammenspiel zwischen Rußland und England zwinge ihn zum Krieg. Zwei Tage später überquerte seine Armee auf drei Pontonbrücken den Njemen oder, auf deutsch, die Memel. Der Krieg mit Rußland hatte begonnen.
Napoleon stieß zunächst, da sich das Gros der gegnerischen Verbände ins Landesinnere zurückzog, kaum auf Widerstand. Im zerstörten Smolensk gab es Kämpfe mit der russischen Nachhut. Die erste große Schlacht fand am 7. September bei Borodino, dem letzten bedeutenden Ort vor Moskau, statt. Dort fügten sich die Truppen von Feldmarschall Kutusov und die Grande Armée wechselseitig so schwere Verluste zu, daß man den schließlichen Sieg der letzteren nur als Pyrrhussieg bezeichnen kann. Eine Woche später, am 14. September, zog Napoleon ins nahezu menschenleere Moskau ein; tags darauf wurde die Stadt auf Befehl des russischen Gouverneurs in Brand gesteckt. Im Kreml, wo er sich fünf Wochen aufhielt, wartete der Kaiser auf ein Friedensangebot Alexanders I. Als ein solches nicht eintraf, befahl Napoleon den Rückzug.
Er begann am 19. Oktober und wurde für die Grande Armée zu einer einzigen Katastrophe. Napoleon fand sich in der ihm ungewohnten Rolle des Gejagten wieder. Von der tiefgläubigen Bevölkerung, die in ihm den Antichrist sah, erhielt er nicht die geringste Unterstützung; die russischen Angriffe ähnelten zunehmend denen der spanischen Guerilla; Hunger und Frost forderten Hunderttausende von Menschenleben. Beim Übergang über die vereiste Beresina Ende November gerieten die Truppen Napoleons unter schweres russisches Feuer. Als seine Nachhut die Behelfsbrücken zerstörten, bedeutete dies das Todesurteil für Zehntausende kaiserlicher Soldaten, die sich noch auf dem Ostufer befanden. Mitte Dezember erreichten die heruntergekommenen Reste der Grande Armée die Memel. Der Kaiser war den Truppen nach Paris vorausgeeilt, wo er in der Nacht vom 18. zum 19. Dezember eintraf: ein Geschlagener, der bereits begonnen hatte, Ursache und Ausmaß seines Scheiterns zu verschleiern, ja die Niederlage zu leugnen.[ 47 ]
Vom Tauroggen bis Elba: Napoleons erster Sturz
Der schmähliche Ausgang des Rußlandfeldzugs ermutigte alle, die der Abhängigkeit ihrer Staaten von Napoleon überdrüssig waren. Den Anfang machte der preußische General von Yorck, der am 30. Dezember 1812, auf dringenden Rat von Clausewitz,
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