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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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brauchte Frankreich von der Restauration der Bourbonenherrschaft nicht zu befürchten. Bereits am 1. Februar 1813 hatte Ludwig XVIII. feierlich erklärt, er werde die Vermögensverhältnisse, wie sie nach 1789 entstanden waren, nicht antasten. Seit der Revolution hatte sich die Zahl der Landbesitzer verdreifacht, wobei die größten und wertvollsten Flächen in den Besitz vermögender Bourgeois und Großbauern gelangt waren: In den 1820er Jahren mußten sich neun Zehntel der Bevölkerung in ein Viertel des Bodens teilen, während 1 Prozent der Besitzer über 30 Prozent des Bodens verfügten. In den besitzenden Schichten, namentlich unter Kaufleuten und Unternehmern, hatte das Grand Empire in den letzten Jahren vor 1814 seinen Rückhalt immer mehr eingebüßt. Seit die «Grande nation» aus Napoleons Feldzügen keine zusätzliche «gloire» mehr gewinnen konnte, gab es auch nichts mehr, was die Öffentlichkeit über die kritische Lage der Wirtschaft und den ernsten Zustand der Staatsfinanzen hinwegtäuschen konnte. Die Ernüchterung im Bürgertum ging so weit, daß von dieser Seite vorerst keine Versuche zu erwarten waren, die neue politische Ordnung wieder umzustürzen.
    Allerdings mußte Ludwig XVIII., wenn er die Zustimmung der Franzosen gewinnen wollte, etwas tun, was auf seine Weise auch Napoleon getan hatte: Er mußte Brücken in die Vergangenheit schlagen. Für Napoleon hieß das: Brücken in die Zeit vor 1789. Die Schaffung der «noblesse impériale» war ein solcher Brückenschlag. Für Ludwig XVIII. kam es darauf an, den Bruch mit der allerjüngsten Vergangenheit, der Revolutions- und der napoleonischen Zeit, abzumildern. Die Garantie der nachrevolutionären Eigentumsverhältnisse war nur ein erster Schritt in diese Richtung. Nicht minder wichtig war eine Verfassung, die bestimmte revolutionäre Errungenschaften wie die Rechte des Einzelnen, die Gewaltenteilung und die Beteiligung gewählter Vertreter an der Gesetzgebung, sicherte und sich eben dadurch positiv von der Verfassungswirklichkeit des Empire abhob.
    Die Charte constitutionelle, die am 4. Juni 1814 von Ludwig XVIII. oktroyiert wurde, war der Versuch eines historischen Kompromisses. Der Monarch war wieder ausschließlich ein König von Gottes Gnaden. Von der Souveränität des Volkes oder der Nation war keine Rede. In den Händen des Königs lagen die vollziehende Gewalt und das Recht der Gesetzesinitiative. Er ernannte die Minister, die Beamten und die Richter; er befehligte die Streitkräfte, erklärte den Krieg und schloß Friedens-, Bündnis- und Handelsverträge ab. An der gesetzgebenden Gewalt wirkten die beiden Kammern mit: die Kammer der Pairs, die vom König ernannt wurden (Chambre des Pairs), und die Kammer der Deputierten, die für fünf Jahre auf Grund eines Zensuswahlrechts gewählt wurden (mit der Folge, daß bis 1830 die Zahl der «Elektoren» in ganz Frankreich nie über 100.000 stieg). Die Kammern durften den König bitten, zu einem von ihnen benannten Gegenstand ein Gesetz vorzuschlagen. Sie hatten das Recht, die Minister wegen Verrats oder Veruntreuung anzuklagen; über sie zu richten, war Sache der Pairs.
    Die Verfassung garantierte den Franzosen gewisse «Staatsrechte» wie die Gleichheit vor dem Gesetz, den Schutz der individuellen Freiheit vor willkürlicher Verfolgung oder Verhaftung, die Religionsfreiheit (bei gleichzeitiger Festlegung der römisch-katholischen Religion als Staatsreligion), das Recht der freien Meinungsäußerung im Rahmen der Gesetze, die Unverletzlichkeit des Eigentums einschließlich des «Nationaleigentums» der Revolutionszeit. Der alte Adel nahm wieder seine Titel an; der neue behielt die seinigen. Die Ehrenlegion blieb bestehen. Die alten Privilegien, der «Feudalismus» und die Stände wurden nicht wiederhergestellt. Nachforschungen über «Meinungen und Vota bis zur Wiederherstellung der jetzigen Regierung» waren untersagt. Das «nämliche Vergessen» wurde den Tribunalen und den Bürgern auferlegt. (Toutes recherches des opinion et votes émis jusqu’à la restauration sont interdites. Le même oubli est commandé aux tribunaux et aux citoyens.)
    Das Versprechen von Amnesie und Amnestie war geeignet, jene zu beruhigen, die am meisten Anlaß hatten, die Folgen der bourbonischen Restauration zu fürchten: die aktiven Träger der Revolution und des Empire. Hinter dem, was die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und die Verfassung von 1791 den Franzosen an individuellen Rechten gebracht

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