Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
vermutlich nicht gekommen, hätten die europäischen Großmächte die Sache Spaniens und Portugals zu ihrer eigenen gemacht. Zar Alexander I. wünschte sich ein solches gemeinsames Vorgehen gegen die Revolution in Mittel- und Südamerika, und in Frankreich dachte die Regierung Villèle zeitweilig daran, Angehörige des Hauses Bourbon zu Herrschern über bislang spanische Kolonien zu machen. Ganz anders verhielt sich England. Es sah in Lateinamerika einen wichtigen Absatzmarkt seiner industriellen Erzeugnisse und richtete seine Politik zu einem guten Teil an ebendiesem Interesse aus.
Außenminister George Canning, der Abgeordnete der Industrie- und Hafenstadt Liverpool im Unterhaus, war der entschiedenste Vertreter einer Politik der Nichtintervention – wohl wissend, daß dies auf eine andere Art der Intervention, nämlich zugunsten der Unabhängigkeitskämpfer, hinauslief. Um die kontinentaleuropäischen Mächte an einem Eingreifen auf der anderen Seite des Atlantiks zu hindern, strebte er sogar eine Allianz mit einem Land an, das sich erst ein knappes halbes Jahrhundert zuvor von der britischen Herrschaft befreit und in den Jahren 1812 bis 1814 erneut einen Krieg gegen das ehemalige Mutterland geführt hatte: den Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA hatten ihrerseits das größte Interesse daran, Lateinamerika ihrem Handel zu öffnen, und ließen es schon deshalb nicht an Bekundungen der Sympathie für die antikolonialen Kräfte fehlen. Bereits 1822 erkannte Washington die Unabhängigkeit von Groß-Kolumbien, Chile, Peru, den Vereinigten Provinzen des Río de la Plata und Mexiko an – begleitet von der Versicherung, in den Konflikten zwischen den neuen Staaten und Spanien würden sich die Vereinigten Staaten neutral verhalten.
Zu einem Bündnis zwischen den beiden angelsächsischen Mächten kam es nicht. Der amerikanische Außenminister John Quincy Adams, ein Sohn des zweiten Präsidenten der Union, warnte nachdrücklich und mit Erfolg vor jeder vertraglichen Bindung an die einstige Kolonialmacht. Canning konnte also nur im Namen seiner eigenen Regierung sprechen, als er am 12. Oktober 1822 die Regierung Villèle über den französischen Gesandten in London, den Fürsten von Polignac, wissen ließ, daß Großbritannien eine europäische Intervention in Lateinamerika nicht tolerieren würde. Die Mitteilung, die Polignac auf Ersuchen Cannings in die Form eines Memorandums brachte, genügte, um dem Projekt bourbonischer Monarchien in Südamerika den Boden zu entziehen. Auch für Zar Alexander war der Gedanke einer bewaffneten Aktion der europäischen Großmächte an der Seite Spaniens damit erledigt: Eine Mitwirkung Großbritanniens war aus seiner Sicht die unabdingbare Voraussetzung einer erfolgreichen Intervention auf der anderen Seite des Südatlantiks.
Anders als England wählten die Vereinigten Staaten den Weg einer öffentlichen Erklärung ihres höchsten Repräsentanten, um ihre Ablehnung jeder europäischen Einmischung in Lateinamerika vor aller Welt zu Protokoll zu geben: Am 2. Dezember 1823 verkündete Präsident James Monroe in einer Botschaft an den Kongreß die Doktrin, die bis heute unlösbar mit seinem Namen verknüpft ist. Sie enthielt eine klare Absage an jede weitere Kolonisation europäischer Mächte in Amerika und gipfelte in der Feststellung, daß die USA jeden Versuch der europäischen Großmächte, «ihr System auf irgendeinen Teil dieser Hemisphäre auszudehnen, als gefährlich für unseren Frieden und unsere Sicherheit ansehen würden» (that we should consider any attempt on their part to extend their system to any portion of this hemisphere as dangerous to our peace and safety). In die bestehenden Kolonien irgendeiner europäischen Macht hätten sich die Vereinigten Staaten nicht eingemischt und würden das auch künftig nicht tun. «Aber wir können einen Eingriff seitens einer Macht in die Regierungen, die ihre Selbständigkeit erklärt und sie aufrechterhalten haben, und deren Unabhängigkeit wir nach reiflicher Überlegung und auf Grund gerechter Prinzipien anerkannt haben, zu dem Zweck, sie zu unterdrücken oder in irgendeiner Weise ihr Schicksal zu bestimmen, in keinem anderen Licht denn als Ausdruck eines unfreundlichen Verhaltens gegenüber den Vereinigten Staaten (an unfriendly disposition toward the United States) sehen.»
Im folgenden Absatz wurde Monroe noch konkreter. Er erklärte es für unmöglich, daß die Verbündeten ihr politisches System auf irgendeinen Teil der
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