Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
sich Johann VI. Ende 1807 nach dem Einmarsch französischer und spanischer Truppen mitsamt seinem Hof nach Brasilien begeben, von wo er erst 1821, nach dem Pronunciamiento liberaler Offiziere, in seine Heimat zurückkehrte. Die brasilianische Regentschaft hatte er zuvor seinem Sohn Dom Pedro I. Übertragen. Dieser berief unter dem Eindruck einer erstarkenden Unabhängigkeitsbewegung eine Nationalversammlung ein und erklärte am 7. September 1822 in Ypiranga die Unabhängigkeit Brasiliens. 1825 wurde diese unter britischem Druck von Portugal anerkannt.
Als konstitutionelles Kaiserreich, das es bis zur Revolution von 1889 war, blieb Brasilien in höherem Maß mit Europa verbunden als die ehemaligen spanischen Kolonien, aus denen ausnahmslos unabhängige Republiken hervorgingen. Mit dem größten seiner spanischsprachigen Nachbarn, Argentinien (die Namen «Republica Argentina» oder «Confederación Argentina» setzten sich erst nach 1832 durch), geriet Brasilien 1825 in einen dreijährigen Krieg, nachdem sich am Ostufer des Río de la Plata die spanisch besiedelte, von den Portugiesen 1817 eroberte «Cisplatinische Provinz» gegen die brasilianische Herrschaft erhoben hatte. Der Friede von Montevideo, den Großbritannien 1828 vermittelte, schuf einen selbständigen Pufferstaat zwischen Brasilien und Argentinien: die unabhängige Republik Uruguay.
Die Erklärung der Unabhängigkeit bedeutete für keine der ehemaligen spanischen Kolonien Lateinamerikas innenpolitische Stabilität. Simón Bolívar, der Präsident von Groß-Kolumbien, der 1825/26 auch Diktator von Hochperu und von 1824 bis 1827 Präsident von Peru war, versuchte vergeblich, das gesamte spanischsprachige Lateinamerika zu einer Konföderation zu vereinigen; ein zu diesem Zweck 1826 einberufener Panamerikanischer Kongreß in Panama schlug fehl. Bolívar scheiterte am Nationalismus der Teilgebiete und dem Ehrgeiz ihrer militärischen Führer, aber auch an sich selbst. Er war kein «Liberaler», sondern der Verfechter einer autoritären und zentralistischen Staatsführung. Vermutlich lag es am Einfluß seines Lehrers Simón Rodriguez, eines persönlichen Schülers und Bewunderers von Jean-Jacques Rousseau, daß der «Libertador» sich selbst als die Verkörperung des allgemeinen Willens und als obersten Gesetzgeber begriff und dem Gedanken einer starken repräsentativen Volksvertretung nur wenig abgewinnen konnte.
In Peru und Groß-Kolumbien stieß die diktatorische Machtfülle Bolívars seit 1826 zunehmend auf Widerstand. In Caracas rebellierte General José Antonio Páez, ein Mulatte, gegen die angebliche Tyrannei der Regierung von Groß-Kolumbien in Bogotá; der dortige Vizepräsident Francisco de Paula Santander, ein Befürworter einer starken Legislative und mithin ein «Liberaler», stellte sich gegen den «Libertador», der ihn daraufhin seiner Ämter enthob. Nachdem eine Nationalversammlung in Ocaña einem Verfassungsentwurf im Sinne Santanders zugestimmt hatte, errichtete Bolívar im August 1828 eine Diktatur. Im Monat darauf entging er mit knapper Not einem Mordanschlag seiner innenpolitischen Gegner; die Sezessionsbewegung in Venezuela und die putschistischen Bestrebungen im Militär aber gingen unvermindert weiter. Der Befreier gelangte infolgedessen immer mehr zu der Überzeugung, daß es kein wirksames Mittel gegen die anarchischen Kräfte des befreiten Lateinamerikas gab, und trat im April 1830 von allen seinen Ämtern zurück. Im Monat darauf erklärte Venezuela seine Unabhängigkeit; Ecuador folgte Ende 1830. Das Restgebiet nannte sich wieder Neu-Granada; durch die Verfassung von 1863 wurden daraus die Vereinigten Staaten von Kolumbien. Bolívar, der sich nach seinem Rückzug aus der Politik in die kolumbianische Provinz zurückgezogen hatte, starb am 17. Dezember 1830 siebenundvierzigjährig in Santa Marta an Tuberkulose.
Konfliktreich verlief die politische Entwicklung nach der überwindung der Kolonialherrschaft auch in anderen Staaten Südamerikas. Gebietsstreitigkeiten führten immer wieder zu Kriegen zwischen den neugegründeten Staaten. In Chile tobten nach 1823 heftige Parteikämpfe zwischen Konservativen und Liberalen; 1829 brach der offene Bürgerkrieg aus, der 1830 die Konservativen an die Macht brachte. Damit begann eine längere Zeit der autoritären Stabilisierung, die nur 1851 und 1859 von kurzen Bürgerkriegen unterbrochen wurde. In Argentinien führten anarchische Zustände 1828 zur Errichtung einer Diktatur des Gouverneurs
Weitere Kostenlose Bücher