Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
menschenfreundlich, ohne Blutvergießen (sic!), ohne in den Augen der Welt eines der großen Prinzipien der Moral zu verletzen. Man könnte die Menschen nicht mit mehr Achtung vor den Gesetzen der Menschlichkeit vernichten.»[ 68 ]
Das Amerika der frühen dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts hinterließ bei Tocqueville ein widersprüchliches Bild. Der junge Autor, der beim Erscheinen der ersten beiden Bände seines Werkes erst dreißig Jahre alt war, bewunderte die politische Weitsicht der Verfassungsschöpfer und die republikanische Freiheitsliebe der Bürger. Er sah zugleich, welche Gefahren für die geistige Freiheit erwuchsen, wenn die Meinung der Mehrheit darüber entschied, was wahr und falsch war. «Unsere Zeitgenossen stehen ständig unter der Wirkung zweier einander feindlicher Vorlieben: Sie haben den Wunsch, geführt zu werden, und das Verlangen, frei zu bleiben. Unfähig, eine dieser entgegengesetzten Neigungen zu unterdrücken, bemühen sie sich, beide zugleich zu befriedigen. Sie stellen sich eine einheitliche, vormundschaftliche, allmächtige Gewalt vor, die aber von den Bürgern gewählt wird. Sie wollen die Zentralisation mit der Volkssouveränität verbinden. Das verschafft ihnen eigene Beruhigung. Der Gedanke, daß sie selbst ihren Vormund gewählt haben, tröstet sie über die Vormundschaft hinweg.»
Wenn es richtig war, daß Europa noch bevorstand, was Amerika in der Ära Jackson bereits erlebte, konnte es aus den Erfahrungen der Vereinigten Staaten lernen. Aufhalten ließ sich die Entwicklung hin zu größerer Gleichheit nicht; aussichtslos und verkehrt wäre es gewesen, auf die Wiederherstellung einer aristokratischen Gesellschaft hinzuarbeiten. Es ging vielmehr darum, «die Freiheit aus dem Schoß der demokratischen Gesellschaft, in der zu leben Gott uns bestimmt hat, hervorgehen zu lassen». Da die Gleichheit den Menschen gewisse Neigungen einflößte, die der Freiheit höchst gefährlich waren, taten Europas Gesetzgeber gut daran, diese Gefahren im Auge zu behalten und ihnen, so gut es ging, vorzubeugen. Unüberwindlich waren die Gefahren, die die Gleichheit für die menschliche Unabhängigkeit mit sich brachte, durchaus nicht. «Die Nationen unserer Zeit können die Gleichheit in ihrer Mitte nicht verhindern; aber es hängt von ihnen ab, ob die Gleichheit sie zur Knechtschaft oder zur Freiheit, zur Bildung oder zur Barbarei, zum Wohlstand oder zum Elend führt.»[ 69 ]
Auf den letzten Seiten des zweiten, 1835 erschienenen Bandes der «Demokratie in Amerika» wurde Tocqueville zum Propheten. Er sagte für die nähere Zukunft eine weitere Expansion der Vereinigten Staaten nach Westen und infolgedessen Konflikte mit Mexiko voraus, das zu dieser Zeit noch Kalifornien sowie die späteren amerikanischen Bundesstaaten Nevada, Utah, Colorado, Arizona, New Mexico und Texas besaß. Bereits seit den frühen 1820er Jahren hatte der Zustrom anglo-amerikanischer Siedler nach Texas begonnen. 1835, im Erscheinungsjahr der ersten beiden Bände von Tocquevilles Werk, kam es dort zu einer großen Erhebung der nordamerikanischen Kolonisten gegen die mexikanische Regierung. Im Jahr darauf besiegten die Angloamerikaner eine von General de Santa Anna, dem Präsidenten von Mexiko, befehligte Armee. Texas wurde nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit 1845 als 28. Staat in die Union aufgenommen, was im Jahr darauf zu einem Krieg mit Mexiko führte. Er endete im Februar 1848 mit dem Frieden von Guadalupe Hidalgo, in dem Mexiko das gesamte Gebiet nördlich des Rio Grande del Norte, von Texas bis Kalifornien, an die USA abtreten mußte.
An der fortschreitenden Eroberung bisher mexikanischen Territoriums hatte Tocqueville schon Mitte der dreißiger Jahre keine Zweifel. Diese Entwicklung hatte aus seiner Sicht ihre eigene innere Logik. Die englische Rasse habe ein gewaltiges Übergewicht über alle anderen europäischen Rassen der Neuen Welt errungen. «Sie ist ihnen weit überlegen, was Zivilisation, Industrie und Macht angeht. Solange sie nur öde oder dünn besiedelte Landstriche vor sich hat, solange sie bei ihrem Vorrücken nicht auf Gebiete mit großer Bevölkerungsdichte stößt, die man nicht einfach durchqueren kann, wird man sie sich ohne Unterlaß weiter ausdehnen sehen. Sie wird sich nicht durch Linien aufhalten lassen, die durch Verträge gezogen sind, sondern sie wird diese imaginären Befestigungen von allen Seiten überrennen.»
Noch kühner war die Vorhersage, daß nur zwei Länder über die
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