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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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war der Herzog von Orléans, Louis Philippe, der Sohn des 1793 guillotinierten «Philippe égalité». England erschien den Liberalen auch im Hinblick auf das politische System nachahmenswert. Sie plädierten für ein parlamentarisches System, in dem die Regierung sich mit der Mehrheit der Kammer verständigen mußte und von deren Vertrauen abhing, während der König außerhalb des politischen Streits stehen sollte. «Le roi règne et ne gouverne pas» (Der König regiert, aber er herrscht nicht): So lautete die berühmte Formel, die Adolphe Thiers erstmals wohl am 4. Februar 1830 in den von ihm mitherausgegebenen «National» gebraucht hat, die aber ursprünglich aus dem polnischen Sejm des späten 16. Jahrhunderts stammt und im lateinischen Original lautet: «Rex regnat, sed non gubernat».
    Am 18. März 1830 brach der offene Konflikt zwischen König und Parlament aus. Auf eine uneinsichtige Thronrede des Monarchen antworteten 221 Abgeordnete der Kammer mit einer vom Präsidenten Royer-Collard verlesenen Adresse, in der sie feststellten, daß es ein Zusammenwirken zwischen Regierung und Volksvertretung, wie es die Charte von 1814 zum politischen Gebot erhoben habe, derzeit nicht gebe. Karl X. reagierte auf das Mißtrauensvotum am 16. Mai mit der Auflösung der Kammer und der Anordnung von Neuwahlen.
    Gleichzeitig versuchte die Regierung Polignac, außenpolitische Stärke zu demonstrieren. Unter Hinweis auf die Mißhandlung von französischen Kaufleuten und eine Beleidigung des französischen Konsuls durch den Dei von Algier schickte sie eine Expeditionstruppe von 37.000 Mann auf 453 Schiffen nach Nordafrika. Offizielles Ziel der Strafaktion war die Beseitigung der Versklavung der Untertanen des Dei und die Beendigung der Piraterie, mit der dieser (nominell unter osmanischer Oberhoheit stehende) «Barbareskenstaat» seit Jahrhunderten das Mittelmeer unsicher machte. Zumindest vordergründig war das Unternehmen ein voller Erfolg. Am 4. Juli 1830, drei Wochen nach der Landung der Truppen, fiel Algier in die Hände der Franzosen; tags darauf kapitulierte der Dei; denselben Schritt vollzogen kurz darauf die Beis von Titteri und Oran. Das Hinterland aber war noch längst nicht unter französischer Kontrolle. Was als innenpolitisches Ablenkungsmanöver begonnen hatte, sollte sich zu einem langwierigen, blutigen Kolonialkrieg auswachsen.
    Das eigentliche Ziel, das die Regierung Polignac mit dem Feldzug im Maghreb verfolgt hatte, wurde nicht erreicht: Die französischen Wähler zeigten sich von dem militärischen Abenteuer unbeeindruckt. Aus den Wahlen, deren zweite entscheidende Runde am 3. Juli stattfand, ging die Opposition mit 274 statt bislang 221 Abgeordneten gestärkt hervor. Auf Seiten der Regierung Polignac standen lediglich 143 Mitglieder der Kammer.
    Karl X. hätte den offenen Kampf nur noch durch einen Regierungswechsel im Sinne der neuen Mehrheitsverhältnisse abwenden können. Doch ebendies lehnte er unter Berufung auf die nach seiner Meinung verhängnisvollen Zugeständnisse seines Bruders, Ludwigs XVI., nach dem Ausbruch der Revolution von 1789 ab. Die Antwort auf den Wahlausgang waren vier königliche Ordonnanzen vom 26. Juli 1830. Die erste führte wieder die Zensur ein; die zweite verfügte die neuerliche Auflösung der Kammer, die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal konstituiert hatte; die dritte änderte das Wahlrecht zu Lasten der (überwiegend liberalen) Geschäftsleute ab, indem sie die Gewerbesteuer von der Berechnung des Zensus ausschloß; die vierte setzte das Datum von Neuwahlen fest. Karl X. stützte sich dabei auf Artikel 14 der Charte, der den König ermächtigte, die zur Vollziehung der Gesetze und zur Sicherheit des Staates notwendigen Verfügungen und Verordnungen zu erlassen. Tatsächlich waren zwei der Ordonnanzen nichts anderes als ein Staatsstreich: Fragen der Pressefreiheit und des Wahlrechts konnten, worauf Thiers sogleich hinwies, nur durch Gesetze und nicht durch Verordnungen geregelt werden.
    Am gleichen 26. Juli, an dem die Ordonnanzen des Königs verkündet wurden, unterzeichnete der Polizeipräfekt von Paris einen Erlaß, der den Abdruck von Zeitungsartikeln verbot, die nicht zuvor vom Innenministerium genehmigt worden waren. «Le National», «Le Temps» und «Le Globe» mißachteten die Weisung und erschienen am folgenden Tag mit flammenden Protesten gegen die Unterdrückung der Pressefreiheit. Die kühne Tat wurde zum Fanal der Revolution und der 27. Juli zum ersten

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