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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Voraussetzungen verfügten, um zur Weltmacht aufzusteigen: die Vereinigten Staaten von Amerika und Rußland. «Es gibt heute zwei große Völker auf der Erde, die, bei verschiedenem Ausgangspunkt, dem gleichen Ziel zuzuschreiten scheinen: die Russen und die Anglo-Amerikaner. Beide sind im Verborgenen (dans l’obscurité) herangewachsen, und während die Aufmerksamkeit der Menschen anderswo beschäftigt war, haben sie sich plötzlich in die erste Reihe der Nationen gestellt, und die Welt hat fast gleichzeitig von ihrer Entstehung und ihrer Größe erfahren.»
    Während alle anderen Völker die Grenzen erreicht hätten, die ihnen von der Natur gesteckt seien, und sich folglich nur noch der Aufgabe der Bewahrung widmeten, seien jene beiden Mächte im Wachsen begriffen. Die folgenden Ausführungen machten deutlich, daß Tocqueville nicht nur im Fall Amerikas, sondern auch in dem Rußlands von einer Ausdehnung nach Westen ausging. «Der Amerikaner kämpft gegen Hindernisse, die ihm die Natur entgegenstellt; der Russe hat mit den Menschen zu ringen. Der eine führt einen Kampf gegen Wüste und Barbarei, der andere gegen die mit allen Waffen ausgerüstete Zivilisation: Daher vollziehen sich die Eroberungen des Amerikaners mit der Pflugschar des Landmannes, die des Russen mit dem Schwert des Soldaten. In der Verfolgung seines Zieles stützt sich jener auf das persönliche Interesse und läßt die Kraft und Vernunft der Einzelnen wirken, ohne sie zu dirigieren. Dieser zieht gewissermaßen alle Macht der Gesellschaft in einem Menschen zusammen. Dem einen ist die Freiheit der Hauptantrieb, dem anderen die Knechtschaft. Ihr Ausgangspunkt ist verschieden, ihre Wege sind es auch; und dennoch scheint nach einem geheimen Plan der göttlichen Vorsehung (la Providence) jeder von ihnen berufen, eines Tages die Geschicke einer Hälfte der Welt in den Händen zu haben.»[ 70 ]
    Was Tocqueville 1835 voraussah, war eine Konstellation, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorging. Zuvor hatten die größeren Nationen Europas mehrfach gezeigt, daß es ihnen keineswegs nur um die Bewahrung von Besitzständen, sondern um die Ausweitung ihrer Herrschafts- und Einflußsphären ging. Auch konnten Amerika und Rußland nach 1945 nicht die ganze Welt unter sich aufteilen; es gab auch danach noch eine «dritte Welt». Der Scharfsinn, mit dem der französische Denker die Zeichen seiner Zeit zu deuten wußte, bleibt gleichwohl bemerkenswert. Das gilt nicht nur für seine weltpolitischen Vorhersagen, sondern ebenso für seine weit in die Zukunft vorausweisende Analyse der politischen Entwicklung der europäischen Gesellschaften, die mit Amerika durch ein gemeinsames kulturelles Band verbunden waren: das Erbe des Westens.

Die französische Julirevolution von 1830
    Als Tocqueville 1830 zusammen mit seinem Freund Gustave de Beaumont nach Amerika aufbrach, hatte er kurz zuvor eine neue französische Revolution erlebt: die Julirevolution von 1830. Ihre Vorgeschichte begann im August 1829, als sich König Karl X. auf die Seite des äußersten rechten Flügels der Ultraroyalisten stellte und Jules Auguste Prince de Polignac, den vormaligen Gesandten in London, an die Spitze des Kabinetts berief. Polignac löste Jean Baptiste Vicomte de Martignac ab, der seit Anfang 1829 versucht hatte, eine zuverlässige Mehrheit im Parlament hinter sich zu bringen. In der Kammer, die im November 1827 neu gewählt worden war, standen rund 180 Anhängern der Regierung 180 Liberale und 75 Abgeordnete der rechten Opposition um Chateaubriand gegenüber, die sich inzwischen zur Verteidigerin der Pressefreiheit entwickelt hatte. Polignac nahm keinerlei Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse und handelte damit ganz im Sinne des Monarchen.
    Zur Opposition gehörten also höchst unterschiedliche politische Kräfte. Den linken, republikanischen Flügel repräsentierten zwei im Sommer 1829 gegründete Zeitungen, «La Tribune des départements» und «La jeune France», den rechten Flügel die Anhänger Chateaubriands und die von dem früheren Außenminister ins Leben gerufene Gesellschaft der Freunde der Pressefreiheit. In der Mitte standen die Liberalen um die Zeitungen «Le Globe», «Le National» und «Le Temps». Die Wortführer der Liberalen, die Journalisten Armand Carrel, Auguste Mignet und Adolphe Thiers, bejahten die monarchische Staatsform, hielten aber einen Dynastiewechsel nach dem englischen Vorbild von 1688 für unausweichlich. Ihr Kandidat für die Nachfolge Karls X.

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