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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Lehre denn als allgemeine Meinung herrscht.»[ 67 ]
    Es war der Hang zur Konformität, der Unterdrückung und Knechtschaft zur Folge haben konnte – eben jene Tyrannei der Mehrheit, die den europäischen Liberalen Tocqueville zu der provokanten Feststellung veranlaßte, es gebe in Amerika keine Freiheit des Geistes (il n’y a pas de liberté d’esprit en Amérique). Gegen die Schäden, die die Gleichheit anrichten konnte, gab es nach seiner Überzeugung nur ein Mittel: die politische Freiheit. Die Gründerväter der Vereinigten Staaten hatten Vorkehrungen getroffen, um die Entwicklung in Richtung von Tyrannei und Despotismus aufzuhalten: die föderale Gliederung des großen Landes, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Trennung von legislativer und exekutiver Gewalt. Dazu kamen das «self-government» der Kommunen und «counties», der überlieferte Respekt vor dem Gesetz, die Freiheit der Presse, die Vielzahl von freiwilligen Vereinigungen, die enge Verbindung zwischen der christlichen Religion und dem patriotischen Glauben an die freiheitliche Bestimmung Amerikas, schließlich die ständige Ausdehnung nach Westen, von der Tocqueville annahm, daß sie den Freiheitswillen fördere und der geistigen Beschränktheit wie dem Egoismus entgegenwirke.
    Wie ein halbes Jahrhundert zuvor die Autoren des «Federalist», so fürchtete auch Tocqueville eher einen Machtmißbrauch der Legislative als einen solchen des Inhabers der vollziehenden Gewalt, des Präsidenten. «Zwei große Gefahren bedrohen die Existenz der Demokratien: die völlige Unterordnung der Legislative unter den Willen der Wählerschaft und die Zusammenfassung aller anderen Regierungsgewalten in der Legislative. Die Gesetzgeber der Einzelstaaten haben die Entwicklung dieser Gefahren gefördert. Die Gesetzgeber der Union haben getan, was in ihren Kräften stand, um ihnen etwas von ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen.»
    Dieser Unterschied erschien dem Autor der «Demokratie in Amerika» um so bedeutsamer, als er davon ausging, daß die Bundesgewalt schwächer und die Gewalten der Einzelstaaten stärker werden würden. Der Ausgang des jüngsten Konflikts zwischen der Union und South Carolina diente ihm als Beleg seiner, auf längere Sicht dann doch nicht zutreffenden Einschätzung. Tocqueville erwartete keinen Zerfall der Vereinigten Staaten und keinen Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten, wohl aber einen anderen schrecklichen Bürgerkrieg, nämlich den Rassenkrieg zwischen Schwarzen und Weißen im Süden. Die Aufhebung der Sklaverei war für ihn nur eine Frage der Zeit, von der Abolition aber erwartete er keine wirkliche Befreiung der Sklaven und schon gar nicht ihre Gleichstellung mit den Weißen. «Wenn man den Negern des Südens die Freiheit verweigert, werden sie sich diese zuletzt gewaltsam nehmen; wenn man sie ihnen gewährt, wird es nicht lange dauern, bis sie sie mißbrauchen.»
    Ähnlich fatalistisch, um nicht zu sagen zynisch, äußerte sich Tocqueville über das Schicksal der nordamerikanischen Indianer. Sie würden von den nach Westen vorrückenden Menschen europäischer Kultur aus ihrem Lebensraum vertrieben werden, und wenn die Europäer sich erst einmal an der pazifischen Küste niedergelassen hätten, werde die Indianerrasse Nordamerikas verschwunden sein. Die Schwarzen ständen am äußersten Rande der Sklaverei, die Indianer an der äußersten Grenze der Freiheit. Beide lebten inmitten des amerikanischen Volkes, gehörten aber nicht dazu. Deswegen hatten nach der Meinung des Reisenden aus Frankreich weder die einen noch die anderen längerfristig eine Chance, sich gegenüber den Weißen zu behaupten.
    Was die Indianer anging, hob Tocqueville den scheinbar rechtsförmigen Charakter ihrer Vernichtung hervor. Erst würden sie durch Abschluß eines Vertrags zur Abtretung ihres Territoriums veranlaßt, dann, wenn sie dort nicht mehr leben könnten, brüderlich bei der Hand genommen, um sie außerhalb des Landes ihrer Väter sterben zu lassen. Der Vergleich, den der Autor zwischen der spanischen und der nordamerikanischen Indianerpolitik zog, fiel entsprechend sarkastisch aus: «Den Spaniern ist es nicht gelungen, durch beispiellose Grausamkeiten, die ihnen zur unauslöschlichen Schande gereichen, die indianische Rasse auszurotten; sie konnten sie nicht einmal daran hindern, mit ihnen gemeinsame Rechte auszuüben. Die Amerikaner der Vereinigten Staaten haben dieses doppelte Ergebnis mit wunderbarer Leichtigkeit erreicht, ruhig, gesetzmäßig,

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