Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
der «Trois glorieuses», der drei ruhmreichen Tage der Julirevolution. In der Nähe des Palais Royal wurden die ersten Barrikaden errichtet; die Regierung verhängte den Ausnahmezustand über die Hauptstadt; den Oberbefehl über die Pariser Garnison übertrug sie dem ehemaligen napoleonischen Marschall Auguste de Marmont, Herzog von Ragusa, der am 4. April 1814 durch sein überlaufen zu den Alliierten wesentlich zur Abdankung des Kaisers beigetragen hatte und seitdem vielen Franzosen als die Verkörperung des Verrats galt. Währenddessen strömten immer mehr Studenten, Arbeiter, ehemalige Soldaten und bewaffnete Angehörige der 1827 aufgelösten Nationalgarde zusammen, stürmten mehrere Waffenlager, bauten weitere Barrikaden und besetzten das Rathaus sowie die Kathedrale Notre Dame.
Die Pariser Garnison bestand aus 12.500 Soldaten. Viele von ihnen desertierten bereits bei den ersten Gefechten. Am 29. Juli fiel der Louvre, wohin sich Marmont zurückgezogen hatte, in die Hände der Aufständischen. Die Regierungstruppen, die bereits schwere Verluste erlitten hatten, lösten sich auf. Damit war die alte Ordnung beseitigt. Eine Kommission führender Liberaler, unter ihnen Casimir Périer und Jacques Lafitte, erklärte sich zur provisorischen Regierung und übertrug dem zweiundsechzigjährigen Lafayette ein Amt, das er schon einmal, 1789, übernommen hatte: das des Befehlshabers der Nationalgarde.
Das gemeinsame Ziel der Aufständischen war der Sturz des Regimes Karls X. gewesen. Ging die Revolution weiter, war mit der Ausrufung der Republik zu rechnen. Von den Arbeiterbataillonen und den bewaffneten Studenten und Intellektuellen, die den Sieg erkämpft hatten, wäre die Abschaffung der Monarchie bejubelt worden. Die Gemäßigten um Thiers aber wollten ein Weitertreiben der Revolution wie nach 1789 unbedingt verhindern und betrieben darum die sofortige Thronbesteigung des Herzogs von Orléans. Louis Philippe hatte, bevor er 1793 zu den Österreichern überwechselte und ins Exil ging, als General in den Revolutionsheeren gekämpft und im November 1792 den Sieg bei Jemappes miterstritten. Daran erinnerte nun Thiers – in der Hoffnung, die Republikaner auf diese Weise mit seinem Kandidaten und der Beibehaltung der Monarchie zu versöhnen.
Louis Philippe war bereit, die ihm zugedachte Rolle zu übernehmen. Am 31. Juli erschien er in der Uniform eines Nationalgardisten im Pariser Rathaus, wo ihm Lafayette, der sich mit einer blau-weiß-roten Schärpe geschmückt hatte, demonstrativ umarmte. Der Beifall der Menge ließ sich als Zustimmung zum Thronwechsel deuten. Am folgenden Tag, dem 1. August, übertrug die Kommission von Lafitte und Périer die Regierungsgewalt an Louis Philippe, der seinerseits die künftigen Minister aussuchte und die Kammern auf den 3. August einberief. Karl X., der nach Rambouillet geflüchtet war, dankte zugunsten seines Enkels, des Herzogs von Bordeaux, ab, was aber ebenso folgenlos blieb wie die Übertragung der Regentschaft auf den Herzog von Orléans. Dieser hatte sich bereits entschieden, selbst den Thron zu besteigen und die Königswürde aus den Händen der Volksvertretung entgegenzunehmen.
Am 3. August traten die Kammer der Pairs und die Kammer der Deputierten zusammen und unterzogen die Charte constitutionelle von 1814 einer Revision, zu der das Verbot der Zensur, die Wiedereinführung der Trikolore und die Streichung des von Karl X. mißbrauchten Artikels 14 gehörten. Am 7. August beschlossen die beiden Kammern die neue Verfassung, erklärten den Thron für vakant und besetzten ihn mit «Louis Philippe, König der Franzosen von Gottes Gnaden und durch den Willen der Nation». Der neue Monarch leistete sogleich den Eid auf die Verfassung und ernannte ein Ministerium, dem François Guizot, Casimir Périer und der Herzog de Broglie angehörten. Karl X. begab sich über Maintenon und Cherbourg nach England. Er starb 1836 im Alter von 79 Jahren im habsburgischen Görz, dem heutigen Gorizia am Isonzo.
Die Julirevolution war in vieler Hinsicht die romantische Revolution, als die sie der Maler Eugène Delacroix in seinem berühmten Bild «Die Freiheit führt das Volk» dargestellt hat. Sie wurde geführt von Journalisten und Advokaten, die ihren rasch errungenen Erfolg genossen, aber keine klaren Vorstellungen davon hatten, wie sie den erstrebten Übergang von der Monarchie zur Republik erreichen und das neue Staatswesen gestalten sollten. An ihrer Seite standen ebenso freiheitsliebende
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