Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
Studenten, frühere Soldaten, «kleine Leute» und vor allem Arbeiter, von denen viele aus der Provinz nach Paris gekommen waren, um bei den großen Bauvorhaben der Hauptstadt Geld zu verdienen. Das gemeinsame Ziel, der Sturz des Bourbonenkönigtums, wurde vor allem deshalb so schnell erreicht, weil die reaktionäre Regierung Polignac nahezu die gesamte Gesellschaft gegen sich aufgebracht hatte. Die wenigen Adligen, Kleriker, Offiziere und Beamten, die Karl X. bis zuletzt die Treue hielten, waren auch innerhalb ihrer jeweiligen Gruppe eine Minderheit.
    Die Sieger der Julirevolution waren nicht jene, die den Sieg erkämpft hatten. Der Historiker Jean Tulard spricht von einer «orleanistischen Intrige», die der Erhebung von Republikanern, Studenten, ehemaligen Soldaten und von Arbeitern aus den ärmsten Stadtvierteln von Paris aufgepfropft worden sei. «Der neue König bezog seine Macht weder aus dem Geblütsrecht noch aus der Volkssouveränität. Die Julimonarchie entstand schlicht aus den Intrigen einiger Männer wie Thiers, Lafitte und Casimir Périer, die, auch wenn sie sich auf das nationale Interesse beriefen, nur für ihre eigenen Interessen arbeiteten. Der Dynastiewechsel unterschied sich von einer Palastrevolution in orientalischem Stil nur durch das Eingreifen des Volkes. Tatsächlich wurde das monarchische Prinzip in Frankreich mit den Julitagen zu Grabe getragen.»
    Durch die Julimonarchie gelangte die Großbourgeoisie an die Macht. Ihre Interessen, vor allem die der Bankiers, Großgrundbesitzer und Bergwerksunternehmer, bestimmten den Inhalt der Politik, nicht mehr die Aristokratie und die katholische Kirche, da beide nach 1830 stark an Einfluß verloren. Das Wahlrecht wurde 1831 erweitert: Es genügten nun Steuerleistungen von 200 Francs, um das aktive, und 500 Francs, um über das passive Wahlrecht zu verfügen. Die Zahl der Wahlberechtigten stieg dadurch von 94.600 im Jahre 1829 auf 167.000 (und bis 1846 auf 248.000). Die meisten Handwerker blieben durch diesen Zensus vom Wahlrecht weiterhin ausgeschlossen, die Arbeiter erst recht. Der «Bürgerkönig» hielt sich an die Verfassung, die von ihm ernannten Minister wußten sich vom Vertrauen der Deputierten abhängig. Das Julikönigtum war de jure noch eine konstitutionelle, de facto bereits eine parlamentarische Monarchie.
    Das «juste milieu» der französischen Gesellschaft der 1830er Jahre machte sich die Guizot zugeschriebene Devise «Enrichissez-vous!» (Bereichert euch!) zu eigen. Um das tun zu können, mußte man freilich über ein Mindestmaß an Vermögen verfügen. Wer wählen durfte, gehörte zum «pays légal», dem kleinen Teil der Bevölkerung, der sich durch Abgabe eines Stimmscheins politisch artikulieren konnte. Daneben gab es das «pays réel» der großen Mehrheit, für deren Willensäußerungen die Verfassung keinen Platz vorgesehen hatte.
    Das Proletariat, das in den Pariser Barrikadenkämpfen des Juli 1830 sichtbar in Erscheinung getreten war, machte einen wachsenden Teil des «pays réel» aus. Es hatte jeden Grund, mit den Ergebnissen der Julirevolution zu hadern. Die Empörung über das Regime der Reichen machte sich in den Jahren der Julimonarchie immer wieder Luft, zuerst im großen Aufstand der «canuts», der Seidenweber von Lyon im November 1831, ausgelöst durch ein Veto der Regierung in Paris, des Kabinetts Périer, gegen eine zwischen dem Präfekten von Lyon und einem Teil der örtlichen Unternehmer vereinbarte Erhöhung der extrem niedrigen Mindestlöhne. Nachdem Polizei und Nationalgarde die Ruhe nicht hatten wiederherstellen können, ließ das Kabinett Périer die Erhebung mit Hilfe der Armee niederwerfen. Der Präfekt wurde entlassen, die Nationalgarde, deren Angehörige sich zum Teil den Aufständischen angeschlossen hatten, aufgelöst. Die Staatsgewalt bewies damit einmal mehr, was sie war: ein Instrument in den Händen der Klasse, die im Juli 1830 an die Macht gelangt war.[ 71 ]
    «Mit der Julirevolution betreten wir einen ganz neuen Boden»: Mit diesen Worten beginnt Lorenz von Stein den zweiten Band seiner 1850 erschienenen dreibändigen «Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich». Die Julirevolution war aus der Sicht dieses Hegelianers das Ereignis, durch das die industrielle Gesellschaft zur definitiven Herrschaft gelangte; 1830 wurde so «zum eigentlichen Abschluß der ersten Revolution», der von 1789, und zum «Ausgangspunkt der eigentlich sozialen Bewegung». Unter dem orleanistischen Julikönigtum

Weitere Kostenlose Bücher