Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
zugeschlagen werden, der andere als (ebenfalls durch Personalunion mit den Niederlanden verbundenes) Herzogtum in den Deutschen Bund eintreten. Da Holland sich dieser Regelung verweigerte und Rußland den Vertrag nicht ohne Zustimmung Wilhelms I. ratifizieren wollte, blieben die «24 Artikel» zunächst in der Schwebe. Erst nachdem Wilhelm seinen Widerstand schließlich aufgegeben hatte, traten sie im Februar 1839 in Kraft. Gleichzeitig erkannte auch Zar Nikolaus Leopold I. als König der Belgier an.
Belgien war unterdessen dabei, sich zum Musterland des europäischen Liberalismus zu entwickeln. Die Verfassung vom Februar 1831 enthielt einen umfassenden Katalog von Freiheitsrechten, darunter die unbeschränkte Religionsfreiheit bei strikter Trennung von Staat und Kirche. Das Prinzip der Volkssouveränität fand seinen Niederschlag in Artikel 25, dem zufolge alle Gewalten von der Nation ausgingen. Die gesetzgebende Gewalt übten der König und die beiden Häuser des Parlaments, die Kammer der Volksvertreter und der Senat, gemeinsam aus; alle drei hatten das Recht der Gesetzesinitiative. Der König besaß, entsprechend den Bestimmungen der Verfassung, die vollziehende Gewalt. Er ernannte und entließ die Minister; an ihre Gegenzeichnung war die Inkraftsetzung aller seiner Verfügungen gebunden. Die Minister waren «verantwortlich»; sie konnten von der Kammer der Volksvertreter angeklagt und vor ein Gericht, den Kassationshof, gezogen werden.
Daß die Minister in ihrer Amtsführung des Vertrauens der Abgeordneten bedurften, wurde nicht ausdrücklich festgestellt, war aber die Richtschnur der Regierungspraxis. Das Wahlrecht wurde durch ein besonderes Wahlgesetz geregelt, und zwar im Sinne eines hohen Zensus. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verfügten nie mehr als zwei Prozent der Bevölkerung über das aktive Wahlrecht. Die Zugehörigkeit zum Senat blieb den besonders Vermögenden vorbehalten. Belgien war, ungeachtet der sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Flamen und Wallonen, ein Einheitsstaat. Das förderte zunächst das Zusammenwachsen zu einer Nation, mehrte aber längerfristig die Unzufriedenheit der Flamen, die sich von den wirtschaftlich mächtigeren, politisch tonangebenden Wallonen übervorteilt fühlten. Die Liberalen und die Katholiken versuchten, die Harmonie der Gründungsphase tunlichst zu bewahren, was bis Mitte der 1840er Jahre auch im großen und ganzen gelang.
In keinem anderen Land Europas war während des ganzen 19. Jahrhunderts die Bourgeoisie in einem solchen Maß im Besitz der Macht wie in Belgien. Nirgendwo war die monarchische Gewalt so schwach und der Schutz der individuellen Freiheiten so sicher verbürgt wie hier. Doch die Kehrseite dieses Liberalismus ließ sich nicht verbergen: Die Masse der Bevölkerung blieb von der politischen Macht ausgeschlossen; das wachsende industrielle Proletariat konnte seine Forderungen nur durch sozialen Protest, nicht aber durch gewählte Vertreter im Parlament vortragen. Die Kluft zwischen dem «pays legal» und dem «pays réel» war im Königreich Belgien nicht minder tief als in der französischen Julimonarchie.[ 74 ]
Von der belgischen Revolution in hohem Maß inspiriert war der polnische Aufstand von 1830/31, die zweite Folgerevolution der französischen Julirevolution. Die polnische Erhebung begann am 29. November 1830 mit einem Aufstand, dessen wichtigste Träger junge Offiziere der polnischen Armee im 1815 errichteten Königreich Polen waren. Ein auslösendes Motiv war die begründete Furcht, Rußland plane, die (bereits mobilisierte) polnische Armee zur Wiederherstellung der alten Ordnung in Belgien einzusetzen. Über ein klares Konzept verfügten die Aufständischen nicht; einige Offiziere, die sich der überstürzten Aktion verweigerten, wurden noch am 29. November ermordet. Unterstützung fand das Unternehmen bei politisch interessierten Adligen und Bürgern, vor allem in der Hauptstadt. Die Masse der Landbevölkerung aber stand abseits, und das hatten sich die landbesitzenden Adligen selbst zuzuschreiben: Weil sie keine Bauernbefreiung wünschten, verzichteten sie darauf, die leibeigenen Bauern zum Kampf für die Unabhängigkeit Polens aufzurufen.
Die Führung der Revolution übernahm bald eine Vorläufige Regierung, die vom erweiterten Verwaltungsrat, der legalen, vom Zaren eingesetzten Regierung Kongreßpolens, berufen worden war. An der Spitze der revolutionären Regierung standen Adam Jerzy Czartoryski, der Vorsitzende
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