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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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bemächtigte sich Stein zufolge eine herrschende Klasse, die der Kapitalbesitzer, der Staatsgewalt und zwang dadurch die unterworfene Klasse, das Proletariat, ihrerseits zur Gewalt zu greifen. «Die Gesellschaft spaltet sich in zwei große Lager, die Auffassung der menschlichen Verhältnisse in zwei durchaus entgegengesetzte Systeme und die Entwicklung in zwei große Bewegungen, die sich gegenseitig ausschließen und des Augenblicks warten, wo sie in offenem Kampf auftreten können.»
    Die Zeitgenossen der Julirevolution wußten noch nicht, wie sich die soziale Frage weiterentwickeln würde. Es war jedoch absehbar, daß in dem Maß, wie die Industrialisierung den europäischen Kontinent erfaßte, die Zahl der Proletarier und die Not der arbeitenden Klasse zunehmen würden – so wie man das im Mutterland der Industriellen Revolution, in England, beobachten konnte. Als Stein um 1850 sein Bild von der Zukunft der industriellen Gesellschaft entwarf, konnte er bereits auf den Sturz des Julikönigtums in der Revolution von 1848 zurückblicken. Gleichwohl waren die Prognosen dieses deutschen Konservativen ähnlich kühn und scharfsinnig wie die des französischen Liberalen Tocqueville von 1835. War für diesen Amerika das Paradigma des neuen Zeitalters, so sah jener in Frankreich den «Embryo» der europäischen Entwicklung. Stein ging von der «Gleichartigkeit des Lebens der französischen Nation mit den übrigen germanischen Nationen» aus. Darum konnte er in Frankreich einen Paradefall sehen, aus dem sich lernen ließ, aber alles in allem eher im Sinne eines abschreckenden Gegenbildes als eines Vorbildes.[ 72 ]
    Eine gesellschaftliche Polarisierung zwischen Kapitalbesitzern und Proletariern, wie sie sich im Frankreich des Julikönigtums vollzog, ließ sich nach Steins Überzeugung aufhalten oder zumindest eindämmen, wenn der Staat sich zum Schutzherrn und Helfer des beherrschten Teiles der Gesellschaft, zum Verbündeten der Unterdrückten im Kampf gegen ihre Unterdrücker machte. Um dies tun zu können, mußte der Staat selbständig, seiner eigenen Idee verpflichtet, über alles gesellschaftliche Interesse erhaben sein, was nach Steins Meinung nur unter den Bedingungen des Königtums möglich war. Nur ein «Königtum der sozialen Reform» konnte ein Land vor der Doppelgefahr der sozialen Revolution und der Despotie bewahren. Ein soziales Königtum würde den Thron mit der Idee der Freiheit identifizieren und der Monarchie eine neue, volkstümliche Legitimation verschaffen: «Das wahre, mächtigste, dauerndste und geliebteste Königtum ist das Königtum der gesellschaftlichen Reform … Alles Königtum wird fortan entweder ein leerer Schatten oder eine Despotie werden, wenn es nicht den hohen sittlichen Mut hat, ein Königtum der sozialen Reform zu werden.»
    Stein entwarf einen monarchischen Staat, der sich im Sinne Hegels als Wirklichkeit der sittlichen Idee begriff. Er ließ keinen Zweifel daran, welchem Königtum er am ehesten den Willen und die Kraft zur gesellschaftlichen Reform zutraute: Es war das preußische. Der Hohenzollernstaat war mithin der eigentliche Adressat der «Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich». Ob er sich die Folgerungen Steins zu eigen machen würde, konnte um 1850 noch niemand wissen.[ 73 ]
    Folgerevolutionen: Europa in den frühen 1830er Jahren
    Die Auswirkungen der französischen Revolution von 1830 auf Europa waren nicht so stark wie die der Revolution von 1789, aber doch erheblich. Zum einen spaltete die Julirevolution Europa in einen liberalen Westen und einen konservativen Osten. Dem liberalen Lager gehörten Großbritannien und Frankreich, dem konservativen Rußland, Österreich und Preußen, die Mächte der Heiligen Allianz von 1815, an. Zum anderen gab die Julirevolution den Anlaß zu mehreren Folgerevolutionen. Die erste war die belgische Revolution vom Spätsommer und Herbst 1830. Ihr Hauptgrund war verbreitete Unzufriedenheit mit der «Wiedervereinigung» von 1815: dem Zusammenschluß der früheren Generalstaaten im Norden und der ehemaligen habsburgischen, erst spanischen, dann österreichischen Niederlande unter König Wilhelm I. aus dem Hause Oranien.
    Man mußte bis in die Zeit vor dem Freiheitskampf der Niederlande im 16. Jahrhundert zurückgehen, um von einer Einheit des Gebiets sprechen zu können, das 1815 unter die Herrschaft Wilhelms I. kam. Im südlichen Teil des Königreichs der Vereinigten Niederlande lag eines der am höchsten industrialisierten Gebiete des

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