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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Einhaltung der göttlichen Gesetze, die den Menschen zur Freiheit führt (En Amérique, c’est la religion qui mène aux lumières, c’est l’observance des lois divines qui conduit l’homme à la liberté) … Die Religion sieht in der bürgerlichen Freiheit einen noblen Ausdruck menschlicher Möglichkeiten und in der politischen Welt ein Feld, das der Schöpfer den Bemühungen des Verstandes überlassen hat. Frei und mächtig in der eigenen Sphäre, zufrieden mit dem Platz, der ihr vorbehalten ist, weiß sie, daß ihr Reich um so fester begründet ist, als sie nur aus eigener Kraft herrscht und ohne alle fremde Unterstützung die Herzen lenkt. Die Freiheit sieht in der Religion die Gefährtin ihrer Kämpfe und ihrer Triumphe, die Wiege ihrer Kindheit, die göttliche Quelle ihrer Rechte. Sie betrachtet die Religion als Hüterin ihrer Sitten, die Sitten als Garantie der Gesetze und als Bürgschaft ihres eigenen Bestandes.»[ 197 ]
    Einen anderen Unterschied zwischen Amerika und Europa sah Tocqueville in der Art und Weise, wie sich das Gemeinwesen herausgebildet hatte. «Bei den meisten europäischen Nationen hat die politische Existenz in den höheren Schichten der Gesellschaft ihren Anfang genommen und sich dann nach und nach, und immer nur unvollständig, auf die verschiedenen Teile des Gesellschaftskörpers übertragen. Von Amerika hingegen kann man sagen, daß sich dort die Gemeinde vor der County, die County vor dem Einzelstaat, der Einzelstaat vor der Union herausgeformt hat (la commune a été organisée avant le comté, le comté avant l’état, l’état avant l’Union).»[ 198 ]
    Der tiefere Grund für die Freiheit und Gleichheit Amerikas lag nach Tocquevilles Überzeugung darin, daß die Bewohner der Vereinigten Staaten nie durch irgendein Privileg voneinander getrennt gewesen waren: «Sie haben nie die wechselseitige Beziehung zwischen Untergeordneten und Herren kennengelernt, und da sie sich gegenseitig weder fürchten noch hassen, müssen sie auch nie einen Souverän bitten, ihre Angelegenheiten im einzelnen zu regeln. Das Schicksal der Amerikaner ist ein einzigartiges: Sie haben von der englischen Aristokratie die Idee der individuellen Rechte und die Liebe zu den lokalen Freiheiten übernommen, und sie konnten beides bewahren, weil sie keine Aristokratie zu bekämpfen hatten.»[ 199 ]
    Rund 120 Jahre nach Tocqueville hat der amerikanische Historiker Louis Hartz im Fehlen feudaler Traditionen die entscheidende Ursache dafür gesehen, daß Amerika sich im 19. und 20. Jahrhundert ganz anders als Europa entwickelt hat. In scharfer Abgrenzung vom Adel und seinen Privilegien hatte sich in Frankreich, und nicht nur dort, ein bürgerliches Bewußtsein herausgeformt, zu dessen Merkmalen es gehörte, die eigenen Interessen mit denen der nichtprivilegierten Gesellschaft gleichzusetzen, im Dritten Stand also den berufenen Sprecher auch der unterbürgerlichen Schichten zu sehen. Der stärkste Protest hiergegen kam im 19. Jahrhundert von den Wortführern einer Arbeiterschaft, die ihre Interessen selbständig, im Kampf gegen die Bourgeoisie, durchzusetzen entschlossen war und sich zu diesem Zweck überlieferter, aus der Feudalzeit stammender Formen des solidarischen Zusammenschlusses in Assoziationen bediente. In Amerika entwickelte sich, da es keinen privilegierten Adel gab, kein standesbewußtes Bürgertum europäischer Prägung und folglich auch kein klassenbewußtes Proletariat. Ohne Feudalismus kein Sozialismus, lautete Hartz’ Schlußfolgerung: «Es ist kein Zufall, daß Amerika, das auf einzigartige Weise keine feudale Tradition kennt, auch der sozialistischen Tradition entbehrt. Den verborgenen Ursprung des Sozialismus überall im Westen kann man im feudalen Ethos finden. Das ancien régime hat Rousseau inspiriert, und beide haben Marx inspiriert.»[ 200 ]
    Das weitgehende Fehlen feudaler Traditionen und einer vom Staat privilegierten Oberschicht, die im Vergleich zu Europa fast unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, die Verbindung von Glaubenseifer und Freiheitsliebe: es kam vieles zusammen, was den Weg Amerikas zur ersten modernen Demokratie zu erklären vermag. Mit am wichtigsten war wohl die von Tocqueville betonte organische Entwicklung des Gedankens der Selbstregierung von der lokalen Ebene an aufwärts. Das Recht, als freie Bürger einer Kolonie an ihrer Gesetzgebung mitzuwirken, hatten sich die frühen Siedler in den Gründungsverträgen, den Charters, fast überall

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