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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Gouverneur der Company for Massachusetts Bay, 1630 bei der Überfahrt von England nach Amerika an Bord der «Arabella» hielt. Er mahnte seine Zuhörer, sie sollten sich bewußt sein, daß sie bald wie eine «Stadt auf dem Berg» sein würden, auf der die Augen aller Menschen ruhten («for we must consider that we shall be as a City upon a Hill, the eyes of all people are upon us»). Das Bild des Laienpredigers stammte aus der Bergpredigt. Dort hatte Jesus, nach dem Bericht des Evangelisten Matthäus, im Anschluß an die Seligpreisungen den Versammelten verkündet: «Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berg liegt, nicht verborgen sein.»
    Puritanische Prediger des 17. Jahrhunderts verkündeten immer wieder, daß die Reformation ihren Höhepunkt erst im Neu-England der Gegenwart erreicht habe. In einem vielgelesenen Buch («Wonder Working Providence of Zions’s Saviour») sprach der Theologe Edward Johnson, ein strenger Calvinist, 1650 von Neu-England als dem Ort, «wo Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde, neue Kirchen und zugleich ein neues Gemeinwesen schaffen würde» (where the Lord would create a new heaven and a new earth, new Churches and a new commonwealth together). über ein Jahrhundert später, im Jahre 1783, nannte der Präsident des Yale College in New Haven, Connecticut, der kongregationalistische Geistliche Ezra Stiles, in einem öffentlichen Gebet die eigene Nation «God’s American Israel».
    Amerika als neues Jerusalem, die Amerikaner als auserwähltes Volk, dazu berufen, die Welt vom Bösen zu erlösen: das meiste, was aus puritanischem Geist zur Sendung des eigenen Volkes gesagt und geschrieben wurde, fand seine Entsprechung oder sein Vorbild in Äußerungen protestantischer Theologen im England des 16. und 17. Jahrhunderts. Auch hier wurde gelegentlich eine «Elect Nation» beschworen, nämlich die englische, und England mit dem Volk Israel verglichen. Ihren Höhepunkt erreichte die heilsgeschichtliche Verklärung unter Cromwell. Aber in den meisten einschlägigen Schriften ging die Behauptung vom göttlichen Auftrag Englands einher mit Selbstzweifeln und Selbstanklagen, die den religiösen Wortführern der amerikanischen Sendung fremd waren. Die Theologisierung der Politik durch den Puritanismus blieb in England, aufs ganze gesehen, eine Episode. In Amerika prägte sie das Nationalbewußtsein so stark, daß ihre Ursprünge auch in den säkularisierten Erscheinungsformen von amerikanischem «exceptionalism» bis in die Gegenwart erkennbar bleiben.[ 194 ]
    Mit dem Bewußtsein der weltgeschichtlich einzigartigen Mission Amerikas unlösbar verbunden war von Anfang an der Gedanke der Freiheit. Damit unterschied sich die politische Theologie Amerikas klar von den heilsgeschichtlichen Selbstdeutungen Deutschlands und Rußlands. Das Heilige Römische Reich hatte sich den göttlichen Auftrag zugeschrieben, als letztes der Weltreiche die Herrschaft des Antichrist und damit den Weltuntergang aufzuhalten. Eine Befreiung der Welt von allen Formen tyrannischer Herrschaft war kein Teil der deutschen Sendung. Als die Großfürsten von Moskau nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken im Jahre 1453 ihr Reich als das «Dritte Rom» zu deuten begannen, war das eine Kampfansage an den Westen und an dessen Vorstellungen von Freiheit: Der Okzident war, so wollte es der Mythos, vom rechten Glauben abgefallen, und dem mußte das orthodoxe Rußland zum Heil der Welt entgegenwirken.[ 195 ]
    Den engen Zusammenhang von Freiheit und Religion in den Vereinigten Staaten von Amerika hat niemand schärfer und eindrucksvoller herausgearbeitet als der französische Politiker, Schriftsteller und Historiker Alexis de Tocqueville. Kurz nach der französischen Julirevolution von 1830 hatte er, zusammen mit seinem Freund Gustave de Beaumont, als junger Mann die USA bereist. In seinem klassischen Werk «De la Démocratie en Amérique», dessen erste beide Bände 1835 erschienen, nannte er das Wesen der anglo-amerikanischen Zivilisation das Produkt zweier völlig verschiedener Elemente, die sich andernorts häufig bekriegt, in Amerika aber wechselseitig durchdrungen und auf wunderbare Weise miteinander verbunden hätten: «Ich spreche vom Geist der Religion und vom Geist der Freiheit.»[ 196 ]
    Was der liberale französische Aristokrat über Amerika schrieb, war ein Kontrastbild zu Europa und vor allem zu Frankreich. «In Amerika ist es die Religion, die zur Erleuchtung führt; es ist die

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