Frau Ella
1
SIE WÄRE DIE LETZTEN PAAR Jahre ihres Lebens auch mit einem Auge zurechtgekommen. Wenn man sie gelassen hätte. Was brauchte sie in ihrem Alter noch zwei Augen? Mit fast neunzig Jahren. Da lag sie jetzt in diesem kargen Krankenhauszimmer und beobachtete, wie seit vielleicht einer halben Stunde Wasser aus dem Bad strömte, mittlerweile den ganzen grauen Boden des Raumes bedeckte und silbern zum Glänzen brachte. Noch stand das Wasser nicht höher als bis zur Sohle ihrer Schuhe unter der Garderobe. Die hatte sie vorhin nicht in den Schrank geräumt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch das Leder nass würde, und dann wären die guten Schuhe dahin. Da hatte der Herr Doktor ihr was eingebrockt. Und sie hatte eingewilligt, in diese Klinik zu gehen. Wegen eines Auges! Sie musste etwas tun. Zumindest ihre Schuhe in Sicherheit bringen.
Ganze zwei Tage lag sie schon in diesem Zimmer. Freitagmittag war sie pünktlich in der Aufnahme erschienen, um sich das Auge machen zu lassen, dieses lästige eiternde Ding. Keine große Sache sei das, hatte der Herr Doktor gesagt. Ein kleiner Schnitt, ein Wochenende Ruhe, spätestens Dienstag wäre sie wieder zu Hause. Das müsse es ihr wert sein, um die Welt anschließend wieder mit beiden Augen in ihrer ganzen Schönheit sehen zu können. Dabei war sie vollkommen zufrieden gewesen mit der Welt, die sie sah, auch wenn das Auge immer wieder juckte. Wann, wenn nicht in ihrem Alter sollte der Körper anfangen, neue Wege zu gehen? Davon hatte der Herr Doktor nichts hören wollen. Hatte nur weiter auf sie eingeredet, dass es keine kleinen Krankheiten gebe, dass man immer eine Blutvergiftung riskiere. Daran, dass sie im Krankenhaus ertrinken könnte, hatte er wohl nicht gedacht.
Kerngesund lag sie jetzt hier am helllichten Tag im Bett, als hätte man sie vergessen. Bloß, dass die unfreundlichen Schwestern regelmäßig diese Mahlzeiten servierten, gegen die nicht nur ihr Gaumen, sondern auch ihr Darm rebellierte. Zum Glück war sie allein auf dem Zimmer. Wie Urlaub im Hotel sei so ein Klinikaufenthalt, hatte der Herr Doktor gesagt. Darauf konnte sie gut verzichten, auf Urlaub an sich und auf so einen erst recht. Die letzten vierzig Jahre war sie sehr gut ohne Urlaub ausgekommen. Und jetzt wurde auch noch ihr Zimmer überschwemmt. So konnte das nicht weitergehen. Ihre Hand zitterte. Sie wollte ja niemandem zur Last fallen, aber irgendetwas musste passieren. Sie drückte die Klingel. Hier konnte sie unmöglich bleiben.
2
ZURÜCK VON EINEM KLEINEN AUSFLUG in die Cafeteria des Krankenhauses, wollte er nicht glauben, dass das sein Zimmer war. Strahlend weiß stand da sein Bett, seine Bücher stapelten sich auf dem Nachttisch, seine Lederjacke hing an der Garderobe. Und da lag sie, auf dem Rücken, den Mund halb offen, und röchelte vor sich hin. Blässlich graues Haar zu Locken gedreht, ein zerfurchtes Gesicht, Falten, die in sämtliche Himmelsrichtungen liefen, ein schwabbeliges Doppelkinn, das rechte Auge unter einem schlaffen Lid, das linke unter einem Pflaster. Das letzte Mal, dass er näheren Kontakt zur Generation seiner Großeltern gehabt hatte, lag Jahre zurück, und er hatte nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Und jetzt diese schnarchende alte Schachtel in seinem Zimmer, die ihm das Leben zur Hölle machen würde. Daran bestand kein Zweifel.
Noch in der offenen Tür stehend, verfluchte er sein Fahrrad, seine Brille, den Alkohol, den unbeleuchteten Weg durch den Park und sich selbst. All diejenigen, die ihm das eingebrockt hatten. Der allererste halbwegs laue Abend des Jahres! Als er nach seinem Aufprall auf den Asphalt begriffen hatte, dass ein Bügel seiner Brille in einem seiner Augen steckte, war ihm sofort klar gewesen, dass der Start in den Sommer ganz und gar nicht seinen Erwartungen entsprechen würde. Schon beim Vorspiel war alles in die Hose gegangen. Sein verzweifeltes Stöhnen hatte weniger dem körperlichen Schmerz gegolten als der seelischen Belastung durch all die lästigen Dinge, die folgen würden. Das war noch keine Woche her.
Was hatte er hier verloren? Als könnte er sich selbst aus einem Alptraum befreien, ließ er die Tür knallend ins Schloss fallen. Er wachte genauso wenig aus seinem Alptraum auf wie seine neue Zimmergenossin aus ihrem lärmenden Mittagsschlaf. Auf dem Weg zu seinem Bett stieß er gegen einen der beiden Holzstühle, hustete laut, sah kurz in den Schrank, um dessen Tür gleich wieder zuzuschlagen. Unbeeindruckt schnarchte sie
Weitere Kostenlose Bücher