Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Gleichberechtigung von Slawen, Deutschen und Magyaren. «Wir bitten vor dem Throne Euer k.k. (kaiserlich-königlichen, H.A.W.) Majestät, daß das heilige Gebot der Nächstenliebe, brüderliche Gleichberechtigung, auch bei uns tief gekränkten und schwer verkannten, jedoch unserem angestammten Kaiserhause treu ergebenen Slawen zur praktischen Geltung gelange.»
Zur Schlußredaktion der Adresse kam es nicht mehr, und es ist nicht einmal sicher, ob der Text Ferdinand I. Überhaupt je zu Gesicht kam. Am Pfingstmontag, den 12. Juni 1848, brach in Prag ein Aufstand aus, der dem Slawenkongreß ein jähes Ende bereitete. Träger der Erhebung waren Gruppen, die sich dort nicht vertreten fühlten: vor allem Arbeiter und Studenten. Das auslösende Moment der blutigen Barrikadenkämpfe waren offenbar gezielte Provokationen des österreichischen Militärbefehlshabers, Alfred Fürst Windischgrätz. Die tieferen Ursachen aber lagen in steigenden sozialen und nationalen Spannungen. Prag war der industrielle Mittelpunkt Böhmens. Die arbeitende Unterschicht bestand ganz überwiegend aus tschechischsprachigen Bewohnern der Stadt, während der Adel und das besitzende Bürgertum meist deutsch sprachen; das letztere galt auch für die jüdischen Unternehmer. Das soziale Motiv war vom nationalen also nur schwer zu trennen; bei den tschechischsprachigen Studenten und jüngeren Akademikern, die sich aktiv am Kampf beteiligten, stand der Gegensatz zu den Deutschen im Vordergrund.
Den meisten Teilnehmern des Slawenkongresses gelang es, Prag nach Ausbruch der Kämpfe zu verlassen. Einer blieb ganz bewußt in der böhmischen Hauptstadt: Michail Bakunin, der die sechstägige Erhebung für ebenso undurchdacht wie undiszipliniert hielt, aber sogleich mitkämpfte und zuletzt die Führung übernahm. Am 17. Juni erzwang Windischgrätz die Kapitulation der Aufständischen. Bakunin gelang im letzten Augenblick die Flucht aus Prag, die ihn zunächst nach Breslau führte. Auf der deutschen Linken, besonders bei Marx und Engels, war die Erhebung mit Sympathie aufgenommen worden; bei den Wiener Demokraten rief die Brutalität, mit der Windischgrätz die «Ordnung» wiederherstellte, Entsetzen und die Befürchtung hervor, daß sich in der österreichischen Hauptstadt ähnliches ereignen könnte. Es gab aber auch viele liberale und nationalbewußte Deutsche, die (wie die Leipziger Zeitschrift «Die Grenzboten») den Sieg der österreichischen Truppen über die vermeintlichen tschechischen «Terroristen» bejubelten. Daß am 17. Juni 1848 in Prag die Gegenrevolution einen großen Erfolg errungen hatte, blieb den liberalen Nationalisten verborgen – wenn sie es nicht gar billigend in Kauf nahmen.
Doch verloren war die Sache der Revolution im Mitteleuropa des Frühsommers 1848 noch nicht. In Ungarn war seit dem 18. März eine überwiegend liberale Reformregierung unter Graf Lájos Batthyány an der Macht, der als Finanzminister der bisherige Oppositionsführer Lájos Kossuth angehörte – jener Politiker, der am 3. März durch eine leidenschaftliche, in ganz Europa beachtete Rede vor dem ungarischen Parlament in Preßburg den Anstoß zur inneren Umwälzung gegeben hatte. Am 11. April sanktionierte Kaiser Ferdinand in seiner Eigenschaft als König von Ungarn die 31 «Aprilgesetze», mit denen das Land zur Staatsform der konstitutionellen Monarchie überging. Fortan bedurften Entscheidungen des Königs oder des Palatins, der ihn im Falle der Abwesenheit mit allen Vollmachten vertrat, der Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers. Das Unterhaus des Parlaments, der Landtag, wurde auf Grund eines Zensuswahlrechts gewählt, das etwa 7 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung das Wahlrecht gab.
Vieles ließen die Aprilgesetze offen, was den Keim zu Konflikten mit dem Kaiserhof und der Regierung in Wien in sich barg, darunter die Bereiche Außenpolitik, Finanzen, Staatsschuld, Militär und damit den Kernbestand der 1690 begründeten österreichisch-ungarischen Realunion. Die Bauern wurden persönlich frei, doch weniger als die Hälfte erlangte Eigentumsrechte für das von ihnen bewirtschaftete Land. Von einer förmlichen Judenemanzipation sah die Regierung Batthyány ab, um antisemitischen Ausschreitungen vorzubeugen, mit denen sie für diesen Fall fest rechnete. Keine rechtlichen Zusicherungen erhielten die nationalen Minderheiten, die Kroaten, Serben, Slowaken, Deutschen und Rumänen. Am massivsten drängten die Kroaten unter ihrem von der
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