Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
wurde. Fünf Tage später erklärte das Parlament die Dekrete für ungesetzlich und berief Kossuth an die Spitze des Nationalen Verteidigungskomitees, das mit der Ausübung der Exekutivgewalt betraut wurde. Ungarn war nur noch nominell eine konstitutionelle Monarchie, tatsächlich war es eine Parlamentsdiktatur. Die Revolution war in Krieg umgeschlagen: einen Krieg um die nationale Unabhängigkeit Ungarns.
Ungarn war nicht der äußerste südöstliche Schauplatz der europäischen Revolution von 1848. Auf diesen Titel hatten vielmehr zwei Gebiete Anspruch, die formell unter der Oberhoheit des Osmanischen Reiches standen, seit dem russisch-türkischen Frieden von Adrianopel von 1829 tatsächlich aber Protektorate des Zarenreiches bildeten: die beiden christlichen Fürstentümer Moldau und Walachei. Die Sprache der Bewohner war dieselbe wie die eines erheblichen Teiles der in Siebenbürgen lebenden Untertanen des Königs von Ungarn, der zugleich Kaiser von Österreich war: rumänisch. Junge Rumänen aus Moldau und der Walachei, meist Angehörige des niederen Adels, hatten seit den dreißiger Jahren in Westeuropa, vorzugsweise in Paris, studiert. Auf diese Weise waren liberale, demokratische und nationale Ideen aus dem Westen und nicht zuletzt solche des polnischen Exils in das Land zwischen Donau und Pruth gelangt. Die Kontakte mit Frankreich trugen mit dazu bei, daß sich gebildete Rumänen verstärkt ihrer «westlichen», nämlich romanischen Sprache bewußt wurden. An der Pariser Februarrevolution nahmen auch rumänische Studenten und Intellektuelle teil. Einige von ihnen, darunter Nicolae Balçescu und Alexander G. Golescu, beschlossen bei einer Zusammenkunft in der französischen Hauptstadt am 20. März 1848, in ihre Heimat zurückzukehren und dort eine Revolution auszulösen.
In Moldau und der Walachei fiel diese Absicht vor allem bei den Bauern auf fruchtbaren Boden, die unter harten Fronlasten zugunsten der adligen Grundherren, der Bojaren, litten und selbst nur kleine Landflächen für den eigenen Bedarf bewirtschaften durften. Unzufrieden mit den bestehenden Verhältnissen waren aber auch die Kaufleute und Handwerker, denen, anders als den Bojaren, durch die «Organischen Reglemente» der russischen Schutzmacht von 1831 und 1832 nicht das Recht zugestanden worden war, Vertreter in die gesetzgebenden Körperschaften der beiden Fürstentümer zu entsenden. Von den beiden Dynasten war der in Moldau, Mihail Sturdza, der reaktionärere. In vollem Einvernehmen mit dem russischen Konsul gelang es ihm, die revolutionäre Bewegung, die ihn mit einem Petitionssturm bedrängt hatte, auszuschalten. Am 10. April wurden in der Hauptstadt Jassy 300 Oppositionelle verhaftet; einige Führer konnten ins Ausland entkommen. Es war der erste Sieg der Gegenrevolution in Europa.
In der Walachei hatten die revolutionären Kräfte ihren stärksten Rückhalt in Oltenien, dem westlichen Landesteil, und in der Hauptstadt Bukarest. Bereits im März hatten hier Mitglieder einer logenähnlichen Bruderschaft (Fratja) ein geheimes revolutionäres Komitee ins Leben gerufen. Kurz nach ihrer Ankunft in der Walachei am 4. April wurden die beiden Pariser Abgesandten Balçescu und Golescu in das neugebildete Exekutivkomitee dieses Bundes aufgenommen. Ihrer Sache kam zugute, daß sich auch zahlreiche Soldaten der Miliz, ja sogar Offiziere der revolutionären Bewegung anschlossen. Am 21. Juni wurde in der oltenischen Kleinstadt Izlas von einer Vollversammlung unter Mitwirkung eines orthodoxen Priesters eine Proklamation beschlossen, die den Bauern eine Versorgung mit Grundeigentum versprach, freie und gerechte Wahlen ankündigte und die «innere Souveränität» von Moldau und Walachei beschwor, die durch Einmischungen des russischen Protektors ständig verletzt werde. Gleichzeitig zeichnete die Erklärung in vager Form die Umrisse einer großen rumänischen Nation, der auch die rumänisch sprechenden Bewohner Siebenbürgens zugerechnet wurden. Ein wichtiger Adressat des Aufrufs war das Osmanische Reich, dessen Oberhoheit die Verfasser ausdrücklich anerkannten.
Als der Fürst der Walachei, Gheorghe Bibescu, der zwischen Reform und Repression hin und her schwankte, tags darauf einige Vertreter des Exekutivkomitees verhaften ließ, verweigerte ihm die Miliz die Gefolgschaft. Das gleiche taten die Kaufleute und Handwerker von Bukarest und die Bauern der Umgebung. Unter dem Eindruck der Proteste und eines fehlgeschlagenen Attentatversuchs vom Vortag
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