Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
1808 in Paris geborene Sohn von Napoleons Bruder Louis Bonaparte, des Königs von Holland, und Hortense Beauharnais, der Stieftochter des Kaisers.
Louis-Napoleon Bonaparte war nach 1815 im schweizerischen und deutschen Exil aufgewachsen, hatte sich 1831 an der Seite der Carbonari an einem Aufstand gegen die päpstliche Herrschaft im Kirchenstaat beteiligt, dann 1836 in Straßburg und 1840 in Boulogne zwei dilettantische Putschversuche gegen das Julikönigtum unternommen. Nach der Aktion von Boulogne war er zu lebenslanger Haft verurteilt worden, konnte aber 1846 aus der Festung Ham in der Picardie nach London entfliehen. Dort hatte er bereits 1839 bei einem früheren mehrjährigen Aufenthalt, seine Programmschrift, die «Idées napoléoniennes», veröffentlicht. Darin versuchte er, Frieden, Freiheit und den Ausgleich der Klassengegensätze als das eigentliche Vermächtnis seines kaiserlichen Onkels und sich selbst als dessen Testamentsvollstrecker vorzustellen. In der Haft in Ham entstand eine weitere Abhandlung, die 1844 unter dem Titel «Extinction du Paupérisme» (Auslöschung des Pauperismus) erschien: ein Plädoyer, die soziale Frage vorzugsweise durch die Vergabe von ungenutztem Grund und Boden an landwirtschaftliche Genossenschaften der Arbeiter zu lösen.
Die Februarrevolution ermöglichte Louis-Napoleon die Rückkehr nach Frankreich. Bei Nachwahlen Anfang Juni wurde er erstmals in die Nationalversammlung gewählt, verzichtete aber, noch von London aus, auf die Annahme eines der ihm zugefallenen Mandate. Bei einer zweiten Runde von Nachwahlen kandidierte er erneut, was nach dem Wahlgesetz möglich war, in mehreren Wahlkreisen, die er allesamt erobern konnte. Diesmal nahm er die Wahl an, wobei er sich für einen Wahlkreis im Departement Yonne entschied. Fortan mußte man ernsthaft mit einer politischen Karriere des Thronprätendenten aus dem Haus Bonaparte rechnen, der Louis-Napoleon seit dem Tod seines Vaters im Juli 1846 war.
Der Neffe des Kaisers war eine widersprüchliche und schillernde Figur: ein Abenteurer und Lebemann, ein Spieler und Hasardeur, weder ein Rhetor noch ein Heerführer, auf Grund seiner putschistischen Vergangenheit ebenso beargwöhnt wie belächelt, aber gleichzeitig von bemerkenswerter politischer Intelligenz und begabt mit der Fähigkeit, aus Fehlern und Niederlagen zu lernen. Als er 1848 endlich auf die große politische Bühne trat, erwies er sich als virtuoser Meister im Umgang mit den unterschiedlichsten Erwartungen, die sich bei vielen Franzosen an ihn und den Mythos seines Namens knüpften. Er umwarb die Bauern, die ihren kleinen Besitz mit der Erinnerung an Napoleon verbanden, und bemühte sich um die Gunst der Katholiken, indem er den Schutz von Religion und Familie auf sein Banner schrieb. Er stellte sich als Anwalt einer ausreichenden Altersversorgung der Arbeiter und als Gegner von politischer Verfolgung vor und sprach damit die Proletarier an, in deren Augen Cavaignac seit dem Juni 1848 die Diktatur der Bourgeoisie verkörperte. Er versprach, das Eigentum zu verteidigen, die Steuern zu senken und die Ordnung aufrechtzuerhalten und machte sich so für breite bürgerliche und kleinbürgerliche Schichten wählbar.
Hätte Louis-Napoleon im Spätjahr 1848 offen die Wiederherstellung des Kaisertums angekündigt, wäre das für viele Wähler ein Grund gewesen, nicht für ihn zu stimmen. Der Prinz entschied sich darum klugerweise dafür, vor der Wahl nur von dem zu sprechen, was allgemeiner Zustimmung gewiß war. Er wolle, so hieß es in seiner Erklärung vom 30. November, im Fall eines Wahlsieges seine Ehre darin setzen, «am Ende meines Mandats meinem Nachfolger die Staatsgewalt gefestigt, die Freiheit unbeschädigt und das Land blühend zu übergeben.»
Das Kalkül Louis-Napoleons erwies sich als richtig. Aus den Wahlen vom 10. Dezember 1848 ging er als überlegener Sieger hervor. Von 7,5 Millionen abgegebenen Stimmen entfielen auf ihn 5,4 Millionen oder 72 Prozent. Weit abgeschlagen folgten Cavaignac mit 1,4 Millionen, Ledru-Rollin mit 370.000, Raspail mit 37.000, Lamartine mit 18.000 und Changarnier mit 4700 Stimmen. Nur in vier Departements, die als besonders royalistisch galten, in Var, Bouches-du-Rhône, Morbihan und Finistère, erlangte Louis-Napoleon nicht die Mehrheit. Dagegen hatten einige der Departements, in denen er am besten abschnitt, Creuse, Isère, Haute-Vienne und Drôme, ein ausgeprägt «linkes» Profil. Insgesamt lagen seine stärksten Bastionen in den
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