Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
aus allgemeinen freien Wahlen hervorgegangene deutsche Nationalversammlung zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Zu den bekanntesten unter den Gewählten gehörten zwei Gründerväter des deutschen Nationalismus, der Turnvater Jahn und der emeritierte Bonner Geschichtsprofessor Ernst Moritz Arndt. Mandatsträger wurden auch der Dichter Ludwig Uhland, der Professor der Germanistik in Tübingen war, und vier Professoren aus dem Kreis der «Göttinger Sieben» von 1837, nämlich die Historiker Friedrich Christoph Dahlmann und Georg Gottfried Gervinus, der Sprach- und Literaturwissenschaftler Jacob Grimm und der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht.
Ein «Professorenparlament», wie man oft lesen kann, war die erste gesamtdeutsche Volksvertretung zwar nicht, wohl aber eine Versammlung des gebildeten Bürgertums. Von den 585 Abgeordneten, die ihr Mandat antraten, hatten 550 eine akademische Ausbildung genossen. Die Zahl der Universitätsprofessoren belief sich auf 49, die der Richter und Staatsanwälte auf 157, die der Rechtsanwälte auf 66. 110 Parlamentarier kamen aus der Wirtschaft; Arbeiter waren in der Versammlung nicht vertreten. Die in sich gespaltene Linke bildete eine Minderheit, war aber stärker als die konservative Rechte. Die große Mehrheit bestand aus gemäßigten Liberalen unterschiedlicher Richtungen.
Als ihre Hauptaufgabe sahen die Abgeordneten die Ausarbeitung einer Verfassung und namentlich eines Grundrechtekatalogs an. Das war vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Unterdrückungspolitik des Deutschen Bundes und seiner Mitgliedsstaaten verständlich, aber zugleich gefährlich. Denn vor allem mußte es dem Parlament in der Paulskirche darauf ankommen, die drängenden Machtfragen zu klären: obenan das Verhältnis des erstrebten deutschen Nationalstaates zum habsburgischen Vielvölkerreich und zur anderen deutschen Großmacht, dem Königreich Preußen. Dort war am 22. Mai, vier Tage nach der Eröffnung der deutschen Nationalversammlung, eine eigene, preußische Nationalversammlung zusammengetreten, die deutlich links vom Frankfurter Parlament stand. Der eigene Staat war den preußischen Demokraten wichtiger als ein künftiger deutscher Nationalstaat: Deswegen hatten sie sich ganz auf die Wahlen zur Berliner Volksvertretung konzentriert und die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung darüber vernachlässigt.
Erst sehr spät, am 28. Juni 1848, wagte die deutsche Nationalversammlung jenen «kühnen Griff», von dem ihr Präsident Heinrich von Gagern vier Tage zuvor gesprochen hatte: Sie beschloß die Einrichtung einer provisorischen Zentralgewalt, die an die Stelle des Bundestags treten sollte. Am 29. Juni wurde der Österreichische Erzherzog Johann zum Reichsverweser gewählt: eine Entscheidung, mit der die Paulskirche ihren Wunsch unterstrich, Österreich an der Gründung des deutschen Nationalstaates zu beteiligen, die aber vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. als Affront empfunden wurde. An die Spitze des Reichsministeriums trat am 15. Juli ein Standesherr aus dem Odenwald, Fürst Karl von Leiningen.
Über tatsächliche Macht und politische Autorität verfügte die Zentralgewalt nicht. Militärisch und finanziell hing sie völlig vom guten Willen der Mitgliederstaaten des Deutschen Bundes, vor allem von Preußen, ab. Das wurde im Sommer 1848 bei der Beilegung des Schleswig-Holstein-Konflikts auf dramatische Weise deutlich. Unter dem Druck Rußlands und Großbritanniens, zweier Signatarmächte der Schlußakte des Wiener Kongresses, unterzeichnete Preußen am 26. August im schwedischen Malmö einen Waffenstillstandsvertrag mit Dänemark. Er sah den Rückzug der dänischen und der Bundestruppen aus Schleswig und Holstein sowie die Ersetzung der provisorischen Regierung in Kiel durch eine gemischte, von den Königen von Dänemark und Preußen berufene Regierung hervor, wobei der letztere treuhänderisch für den (formell immer noch bestehenden) Deutschen Bund tätig werden sollte.
Der Waffenstillstand löste in Deutschland einen Sturm der nationalen Entrüstung aus, der auch die Paulskirche erfaßte. Als das Reichsministerium zu erkennen gab, daß es keine andere Möglichkeit sah, als den Vertrag ungeachtet aller Proteste anzunehmen, legte die Nationalversammlung ihr Veto ein. Mit der knappen Mehrheit von 238 zu 221 Stimmen nahmen die Abgeordneten am 5. September einen Antrag des Historikers Friedrich Christoph Dahlmann von der rechtsliberalen Fraktion «Casino» an, die
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