Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
der Verfassung zu den Grundsätzen der Freiheit, der Gleichheit und der Unabhängigkeit und nannte als ihre Grundlagen das Familienleben, das Eigentum und die öffentliche Ordnung. Sie verbürgte den Franzosen umfassende Grundrechte, wozu auch die Abschaffung der Todesstrafe für politische Delikte gehörte (die vollständige Abschaffung, wie sie Victor Hugo als Abgeordneter gefordert hatte, ging der Mehrheit zu weit). Algerien und die französischen Kolonien wurden zum französischen Staatsgebiet erklärt.
Die gesetzgebende Gewalt lag bei einer einzigen Kammer, der Nationalversammlung, die auf Grund des allgemeinen gleichen Wahlrechts für Männer für die Dauer von drei Jahren gewählt wurde. Die vollziehende Gewalt übertrug die Verfassung einem Bürger, welcher den Titel des Präsidenten der Republik erhielt und vom Volk, das heißt von «allen Wählern der französischen Departements und Algeriens», auf vier Jahre gewählt wurde; eine unmittelbare Wiederwahl war ausgeschlossen. Der Präsident ernannte und entließ aus eigener Machtvollkommenheit die Minister. Daß diese des Vertrauens der Nationalversammlung bedurften, sagte die Verfassung nicht. Die Konstituante hatte sich also nicht für eine parlamentarische Demokratie, sondern für ein dualistisches System ähnlich der konstitutionellen Monarchie entschieden – mit dem Unterschied, daß an der Spitze der Exekutive kein König, sondern wie in den Vereinigten Staaten von Amerika ein vom Volk gewählter Präsident stand.
Zur großen Machtfülle des Staatsoberhauptes kam mithin ein demokratisches Mandat, das es ihm erlaubte, als Vollzugsorgan des allgemeinen Willens aufzutreten und ein Parlament in seine Schranken zu verweisen, das über sehr viel geringere Rechte verfügte als die beiden Kammern des amerikanischen Kongresses. In der Verfassung der zweiten französischen Republik war folglich ein Verfassungskonflikt von Anfang an als Möglichkeit, wenn nicht als Wahrscheinlichkeit angelegt. Es war die Angst vor der roten Gefahr, die die Konstituante dazu brachte, eine demokratisch verbrämte Diktatur als ultima ratio in das neue Staatsgrundgesetz einzubauen – oder doch dem Präsidenten eine solche Auslegung der Verfassung zu ermöglichen.
Die Verfassung vom 4. November 1848 war aber nicht nur eine Antwort auf die Junischlacht, sondern auch auf das Scheitern der konstitutionellen Monarchie. Der Historiker Pierre Rosanvallon führt dieses Scheitern auf jenen «tief verwurzelten Illiberalismus der französischen politischen Kultur» (illibéralisme foncier de la culture politique française) zurück, den er schon unter dem Ancien régime am Werk sieht: Den Revolutionären sei es damals mehr darum gegangen, den Absolutismus zu demokratisieren als die Monarchie zu liberalisieren. In letzter Instanz war es die Vernichtung aller Zwischengewalten durch das absolute Königtum, die immer neue Formen von Machtkonzentration hervorbrachte: vom Wohlfahrtsausschuß über das Direktorium und das Empire bis hin zur parlamentarischen Herrschaft der Großbourgeoisie in der Julimonarchie, in der das Königtum ebensowenig wie zuvor unter der Charte von 1814 die ausgleichende Rolle eines «pouvoir neutre» im Sinne Benjamin Constants auszufüllen vermochte.
Zur Kontinuität trotz aller Regimewechsel gehörte die Abwesenheit einer Tradition von wirksamen Gegengewichten zur machthabenden Gewalt – «checks and balances» in Gestalt von regionaler Autonomie, eines Zweikammersystems, das diesen Namen verdiente, und eines ausgewogenen Verhältnisses von Legislative und Exekutive. Die Franzosen hatten einen Monarchen, Ludwig XVI., getötet, bewunderten aber nach wie vor ihre großen Könige wie Ludwig XIV. Was ihnen insgeheim vorschwebte, war, so Rosanvallon, eine «republikanische Monarchie» (monarchie républicaine). Die Verfassung vom 4. November war ein Ausdruck dieses Wunsches. Sie machte aus dem Präsidenten der Republik einen republikanischen Monarchen: ein Amt, das nun seinen Inhaber suchte.
Als künftigen Präsidenten hatten die meisten Abgeordneten wohl General Cavaignac, den amtierenden Ministerpräsidenten, vor Augen. Tatsächlich kandidierte der Sieger der Junischlacht bei den Präsidentschaftswahlen, die auf den 10. Dezember 1848 angesetzt waren, für das höchste Staatsamt. Seine Mitbewerber waren der bürgerliche Republikaner Lamartine, der linke Demokrat Ledru-Rollin, der Sozialist Raspail, der General Changarnier und Louis-Napoleon Bonaparte, der am 20. April
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