Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
ländlichsten Gegenden Frankreichs. Die gegensätzlichen politischen Motive seiner Wähler bündelt Frédéric Bluche, Autor eines Werkes über die Geschichte des Bonapartismus aus dem Jahr 1980, in dem Satz: «Louis-Napoleon Bonaparte war der Kandidat und der Wahlsieger der Mehrheit der Freunde der Ordnung und der Mehrheit der unzufriedenen Unruhestifter.»
Den zahlenmäßig stärksten Rückhalt Louis-Napoleons bildeten die Bauern, die ihren Grundbesitz der Französischen Revolution und seine rechtliche Absicherung dem Code Civil Napoleons verdankten. Einer der Gründe für das Votum vom 10. Dezember war der Zorn, den die Zweite Republik durch die Einführung eines hohen Zuschlags zur Bodensteuer im März 1848 bei den Bauern hervorgerufen hatte. Marx hat in seiner Schrift «Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850» den 10. Dezember 1848 den «Tag der Bauerninsurrektion», ja den «coup d’état» der Bauern genannt. «Napoleon war der einzige Mann, der die Interessen und die Phantasie der 1789 neugeschaffenen Bauernklasse erschöpfend vertreten hatte … Napoleon, das war für die Bauern keine Person, sondern ein Programm. Mit Fahnen, mit klingendem Spiel zogen sie auf die Wahlstätte unter dem Rufe: Plus d’impôts, à bas les riches, à bas la république, vive l’Empereur. Keine Steuern mehr, nieder mit den Reichen, nieder mit der Republik, es lebe der Kaiser! Hinter dem Kaiser verbarg sich der Bauernkrieg. Die Republik, die sie niedervotiert (hatten), es war die Republik der Reichen.»
Die Arbeiter, die in großer Zahl für Louis-Napoleon stimmten, hatten andere Motive. Sie wollten vor allem einen Präsidenten Cavaignac verhindern, sahen aber in den sozialen Versprechungen des Bewerbers aus dem Hause Bonaparte vielfach einen zusätzlichen Grund, ihm zum Sieg über den Sieger der Junischlacht zu verhelfen. Im Kleinbürgertum bedeutete die Stimmabgabe für Louis-Napoleon, ähnlich wie bei den Bauern, eine Absage an die Vorherrschaft der großen Bourgeoisie, aber auch eine Huldigung an die «gloire» des Empire. Es war vor allem das Charisma des großen Namens, das es dem Prinzen ermöglichte, Gruppen mit gegensätzlichen Interessen hinter sich zu bringen.
Eine Unterstützung staatlicher Stellen gab es im Wahlkampf nur für Cavaignac, nicht für Louis-Napoleon. Um so bemerkenswerter war das plebiszitäre Votum für den letzteren. Louis-Napoleon wurde dadurch zum ersten direkt vom Volk gewählten Staatsoberhaupt Europas, ja, wenn man die Rolle des Wahlmännergremiums bei amerikanischen Präsidentschaftswahlen in Rechnung stellt, der Welt. Das Wahlrecht und die freie Auswahl zwischen mehreren Bewerbern verbürgten eine demokratische Wahl, verhinderten aber nicht, daß die Wähler sich für einen Kandidaten entschieden, dessen Ziele alles andere als demokratisch waren.
Was Louis-Napoleon anstrebte, war eine Autokratie, die jedoch, weil sie modern sein sollte, immer wieder der Akklamation durch das Volk bedurfte. Der 10. Dezember 1848 wurde so zur Geburtsstunde eines neuen Regimetyps, den die Zeitgenossen bald mit Begriffen wie «Cäsarismus» und «Bonapartismus» belegten. Sie beschrieben damit den Versuch, die bürgerliche Revolution, um sie vor dem Umschlag in die proletarische Revolution zu bewahren, als Revolution von oben fortzuführen. Die Verfassung vom 4. November machte eine solche Entwicklung möglich, die Wahlentscheidung vom 10. Dezember unausweichlich. Die Gefahr des Rückfalls in den Bürgerkrieg vor Augen, betraute die Mehrheit der Franzosen die Exekutivgewalt dem Kandidaten an, der es am besten verstanden hatte, sich die Aura eines über den Klassen und Parteien stehenden Anwalts des Gemeinwohls zu geben.
Fürs erste mußte der neugewählte Präsident sich jedoch auf die Kräfte stützen, die die geringsten Vorbehalte gegen ihn hatten und ihrerseits mit ihm zusammenarbeiten wollten. Er berief daher eine Regierung der Monarchisten unter dem «Orleanisten» Odilon Barrot. Auf den Sachverstand erfahrener Politiker war Louis-Napoleon um so mehr angewiesen, als er Frankreich aus eigener Anschauung kaum kannte (sein längster Aufenthalt im Lande war der in der Festung Ham zwischen 1840 und 1846 gewesen) und seine engere Umgebung diesen Mangel nicht ausgleichen konnte. Seine Abhängigkeit von der Regierung Barrot ging so weit, daß die Zeitgenossen von einem «ministère de la captivité» (Ministerium der Gefangenschaft) sprachen. In der Nationalversammlung aber waren die gemäßigten
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