Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
der Zustrom von Einwanderern aus Europa, vor allem aus Deutschland und Irland, von denen viele, besonders die Deutschen, in den Mittleren Westen weiterzogen. Zwischen 1839 und 1844 belief sich die Zahl der Immigranten auf jährlich etwa 80.000. Zwischen 1821 und 1924 verließen 55 Millionen Menschen Europa, um auf der anderen Seite des Atlantiks eine neue Heimat zu finden. Drei Fünftel von ihnen, 33 Millionen, ließen sich in den Vereinigten Staaten nieder. Die Länder der Neuen Welt sogen auf diese Weise 40 Prozent des europäischen Bevölkerungszuwachses auf, die USA allein 24 Prozent.
Was den Mittleren Westen für Amerikaner aus dem dicht bevölkerten Osten und für Europäer so anziehend machte, war die Weite des Landes. Hier war der Boden billiger, die Weidefläche größer, der Nachbarhof ferner als dort, wo die Farmer oder die, die es werden wollten, herkamen. Die Farmer waren die ersten, die den Jägern und Fallenstellern folgten. Mit der Verbreitung und Ausdehnung der Familienfarmen wuchs der Bedarf an anderen Berufen, an Mechanikern, Handwerkern, Händlern, ärzten, Rechtsanwälten, Richtern, Lehrern, Pfarrern, Bankiers, Journalisten und Politikern. Die Landwirtschaft war lange der wichtigste, aber nie der einzige Wirtschaftszweig des Mittleren Westens: Wer auf den Farmen keine Beschäftigung fand, hatte gute Chancen, in den Industriebetrieben der rasch nachwachsenden Städte einen Arbeitsplatz zu erlangen.
Die Alternative bestand darin, weiter westwärts zu ziehen, durch die unwirtlichen «Great Plains» westlich des Missouri, die man auch «The Great American Desert» nannte, nach Colorado auf der Ostseite der Rocky Mountains, wo 1858 Gold gefunden wurde und eine ertragreiche Bergbauindustrie entstand, nach Wyoming, dem Territorium, das als erstes 1869 das Frauenwahlrecht einführte, ins kupfer- und silberreiche Nevada oder gleich in den äußersten pazifischen Westen, ins Territorium von Oregon oder nach Kalifornien. Die «Great Plains» wurden als letzter Teil des Weiten Westens seit den sechziger und siebziger Jahren besiedelt, wobei die Rinderzüchter den kleinen, Schafzucht und Ackerbau treibenden Farmern vorangingen und deren Niederlassung oftmals mit Gewalt mit Hilfe bezahlter «Revolverhelden» zu verhindern strebten. Hier, in den endlosen Präriegebieten, fanden die blutigsten und langwierigsten Kämpfe mit den Indianerstämmen statt, die sich ihre Jagd- und Weidegründe nicht wegnehmen lassen wollten, die sich zur Wehr setzten, als weiße Büffeljäger ihre Lebensgrundlage zu vernichten begannen, und die nicht bereit waren, sich vom Kongreß in Washington in Reservationen einsperren zu lassen, wo sie allenfalls noch dahinvegetieren konnten. Die Zurückdrängung und weitgehende Ausrottung der Indianer trug viele Züge eines Völkermords: nicht im Sinne eines von oben erteilten Befehls zur systematischen Vernichtung, wohl aber einer Politik, die die Lebensbedürfnisse der Ureinwohner rücksichtslos den Interessen der Weißen, der Büffeljäger, Siedler und Eisenbahngesellschaften unterordnete.
1893, als die Indianerkämpfe aufgehört hatten, hielt der Historiker Frederick Jackson Turner auf der Jahrestagung der American Historical Association in Chicago einen rasch berühmt gewordenen Vortrag über die Bedeutung der Grenze in der amerikanischen Geschichte. Die amerikanische Grenze war, wie Turner darlegte, etwas anderes als die europäische Grenze. In Europa trennte eine befestigte Grenze dicht besiedelte Gebiete voneinander; Amerikas «frontier» war hingegen eine wandernde Grenze. Sie verlief am «jeweiligen äußersten Rand des freien Landes» (the hither edge of free land). Sie war der Punkt, wo Wildheit und Zivilisation aufeinandertrafen (the meeting point of savagery and civilization). An der Grenze begann immer wieder der «Prozeß der Evolution in jeder westlichen Gegend, die im Prozeß der Expansion erreicht wurde» (a recurrence of the process of evolution in each western area reached in the process of expansion).
Das Vorhandensein eines Gebiets mit freiem Land, das ständig von einem neuen Gebiet mit freiem Land abgelöst wurde, und das Vorrücken amerikanischer Siedlungen nach Westen (the existence of an area of free land, its continuous recession, and the advance of American settlement westward) erklärten Turner zufolge die Entwicklung Amerikas und seinen Charakter. «Zuerst war die atlantische Küste die Grenze. Sie war in einem sehr realen Sinn die Grenze Europas. Indem die
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