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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Grenze nach Westen vorrückte, wurde sie immer amerikanischer … Auf diese Weise bedeutet das Wandern der Grenze eine ständige Bewegung weg von Europa, einen ständigen Zuwachs an Unabhängigkeit nach amerikanischen Maßstäben.» Deswegen bot auch nicht die Atlantikküste, sondern der «Große Westen» (the great West) den richtigen Blickwinkel, um die Geschichte der amerikanischen Nation zu betrachten.
    Die Grenze war nach Turner der «Ort der schnellsten und wirksamsten Amerikanisierung» (The frontier is the line of most rapid and effective Americanization). Hier begann das gesellschaftliche Leben Amerikas stets aufs neue. Hier, wo Amerika immer wieder mit den einfachen Daseinsbedingungen einer primitiven Gesellschaft in Berührung kam, hatten die «ständige Wiedergeburt, der flüssige Zustand des amerikanischen Lebens» (this perennial rebirth, this fluidity of American life) und der Geist der Selbstbehauptung jedes einzelnen, der ausgeprägte Individualismus der Amerikaner, seinen Ursprung. Hier bildete sich ein starkes Nationalgefühl heraus, das dem Sonderbewußtsein der Regionen, dem «Sektionalismus», entgegenwirkte. Hier entwickelte sich ein Anspruch auf politische Teilhabe, der Amerika demokratischer machte, als es vordem war. Das Vorrücken der Grenze führte zu einer Bevölkerung von hoher Mobilität, so daß das Beharren in örtlicher Beschränktheit, der «Lokalismus», keine Chance hatte. Die wandernde Grenze im Westen veränderte die Vereinigten Staaten so, wie einst das Mittelmeer das klassische Griechenland verändert hatte: Die «frontier» brach die Macht alter Gewohnheiten, ermöglichte neue Erfahrungen und verlangte immer wieder nach neuen Einrichtungen und Betätigungsfeldern.
    Inzwischen war, wie Turner wohl etwas voreilig meinte, die große Westwanderung an ihr Ende gelangt. Die Bedeutung der Grenze für Amerika aber hatte sich nach seiner Überzeugung nicht erschöpft: «Ein voreiliger Prophet wäre, wer behaupten wollte, das amerikanische Leben habe seinen offensiven Charakter völlig verloren. Bewegung war die beherrschende Tatsache, und wenn man nicht annehmen will, daß ein Volk von einer solchen Erfahrung unbeeindruckt bleiben kann, wird die amerikanische Energie sich ständig ein weiteres Feld für ihre Entfaltung suchen.»
    Turners «Frontier-These» hat vielerlei Widerspruch hervorgerufen. Die Kritiker verweisen darauf, daß sich auch im Westen ein kräftiger Sektionalismus entwickelt hat, die national integrierende Wirkung der wandernden Grenze also nicht überschätzt werden darf. Sie betonen, daß das Leben an der jeweiligen Grenze weniger durch Individualismus als durch Solidarität geprägt war. Am ausgiebigsten wurde Turners Behauptung diskutiert, das Vorhandensein von «free soil» habe die sozialen Strukturen Amerikas «fluid» gehalten. Tatsächlich gab es kaum Arbeiter aus dem Osten, die nach Westen aufbrachen, um dort als selbständige Farmer Land zu bewirtschaften oder Vieh zu züchten. Allein der Mangel an Geld verhinderte meist eine solche Art von sozialem Aufstieg. Turner selbst hat freilich seine Vorstellungen von «Mobilität» nicht genauer umrissen und von der «frontier» auch nicht als jenem sozialen «Sicherheitsventil» (safety-valve) Amerikas gesprochen, das in der Debatte über seine Thesen eine bedeutende Rolle spielt.
    Die wissenschaftlichen Einwände haben die «Frontier-These» relativiert, aber nicht widerlegt. Die lange Zeit offene Grenze hatte nachhaltige Wirkungen auf die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Mentalität und die politische Kultur Amerikas. Vom Westen aus eroberte seit den Zeiten von Präsident Andrew Jackson die Idee der «grass root democracy» die Vereinigten Staaten von Amerika; sie veränderte das Wahlrecht und die politischen Institutionen im Sinne erweiterter Teilhaberrechte des Volkes. Vom Westen ging eine freikirchliche, methodistische oder evangelikale Bewegung aus, die auch in den älteren Siedlungsgebieten ihre Anhänger fand. Der wachsende Wohlstand des Westens schlug sich in vermehrten Aufträgen an die Industriebetriebe des Ostens nieder, was zu steigenden Reallöhnen der Arbeiter führte. Die «frontier» trug also in der Tat zur Entschärfung der «sozialen Frage» oder, in der Begrifflichkeit von Karl Marx gesprochen, der Klassengegensätze bei.
    Der «große Westen» beflügelte die Phantasie der Nation und bestärkte sie im Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten Amerikas, an seinen historischen Auftrag, sein

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