Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
enttäuschte alle politischen Lager. Mit der «bewaffneten Intervention» drohte Berlin erst, als es dafür bereits zu spät war. Für die ältere mitteleuropäische Großmacht, Österreich, bedeutete der Verlust der Lombardei eine schwere Niederlage. Wenn auch 1859 noch niemand wußte, wie lange das Habsburgerreich Venetien würde behaupten können, so wäre es doch vermessen gewesen, diesen Besitz für gesichert zu halten. Drei Jahre nach dem Ende des Krimkrieges war ein weiterer Stein aus der Ordnung der Verträge von 1815 herausgebrochen, und das eindeutig zu Lasten Österreichs.
Die Regierenden in Wien mußten überdies damit rechnen, daß das italienische Beispiel Schule machen würde. Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, unternahm Österreich 1860 einen zweiten Versuch, sich zum Verfassungsstaat zu wandeln. Das «Oktoberdiplom» machte die Aristokratie der deutschen wie der nichtdeutschen Kronländer zur Trägerin einer föderalistischen Reichsordnung, rief damit aber sowohl in Ungarn wie unter den deutsch-österreichischen Liberalen heftigen Widerspruch hervor.
Die Folge war die Ausarbeitung eines neuen Staatsgrundgesetzes durch den neuberufenen Staatsminister und ehemaligen Reichsministerpräsidenten Anton von Schmerling. Ein Kaiserliches Patent vom 26. Februar 1861 schuf im Reichsrat ein Gesetzgebungsorgan für die Gesamtmonarchie. Ungarn wurde aus seiner Zuständigkeit dadurch teilweise herausgenommen, daß ein «engerer Reichsrat» über Angelegenheiten beraten und entscheiden sollte, die nur die cisleithanischen, also nichtmagyarischen Reichsteile betrafen. Da Magyaren, Tschechen, Polen und Kroaten aus Protest gegen dieses System keine Vertreter in den Reichsrat entsandten, konnte dieser nur als überwiegend deutsches Rumpfparlament tätig werden, aber nichts für den Zusammenhalt des Vielvölkerreiches bewirken.
Die Wiener Verfassungsexperimente, denen im Oktober noch zwei Grundrechtsgesetze folgten, wurden im außerösterreichischen Deutschland mit Interesse zur Kenntnis genommen. Die wichtigste Wirkung der österreichischen Niederlage von 1859 aber konnten sie nicht ausgleichen: Schutz vor Frankreich erwarteten die meisten Deutschen nicht mehr von Österreich, sondern, ungeachtet aller Kritik, die Preußen mit seiner Politik während des Krieges hervorgerufen hatte, vom Staat der Hohenzollern. Selbst bislang eher großdeutsch gesinnte Demokraten gelangten im Herbst 1859 zu dieser Einsicht, zu der sich die kleindeutschen Liberalen schon seit langem bekannten. Die Annäherung von Liberalen und Demokraten fand ihren organisatorischen Ausdruck in der Gründung des Deutschen Nationalvereins im September 1859 in Frankfurt am Main. Sein Vorbild war die Società Nazionale von 1857. Die wichtigsten Initiatoren waren auf liberaler Seite der Hannoveraner Jurist Rudolf von Bennigsen, auf der Seite der Demokraten der Kreisrichter und Gründer der deutschen Genossenschaftsbewegung Hermann Schulze-Delitzsch, der 1848 der preußischen Nationalversammlung als Mitglied des Linken Zentrums angehört hatte.
Als Antwort auf die deutsche Frage konnten sich die maßgeblichen Kräfte des Nationalvereins nur einen von einem liberalen Preußen geführten Bundesstaat vorstellen. Zwar sollte den deutschen Teilen Österreichs der Beitritt offenstehen, aber dieses Versprechen diente in erster Linie dazu, süddeutsche Vorbehalte gegen den vorläufigen Ausschluß Österreichs und die preußische Führung zu entkräften. Das wichtigste Signal, das von der Verbandsgründung ausging, war das Zusammenwirken von Liberalen und Demokraten: Beide wollten das, was sie, etwa in der Wahlrechtsfrage, trennte, zurückstellen und sich ganz auf die Schaffung eines freiheitlichen Nationalstaates konzentrieren. Auch darin war Italien ein Vorbild: Erfolg hatte Cavour nur deshalb gehabt, weil er zuvor Liberale und gemäßigte Demokraten in einer Aktionsgemeinschaft zusammengeschlossen hatte.
Wie in der Società Nazionale gab auch im Deutschen Nationalverein das Bürgertum, genauer gesagt das Bildungsbürgertum, den Ton an. Mit über 25.000 Mitgliedern war er aber kein reiner Honoratiorenverband. Er stand mit Arbeiterbildungs-, Turner-, Wehr- und Schützenvereinen in enger Verbindung. Er wirkte aktiv an den deutschen Turn- und Schützenfesten der Jahre 1860 bis 1863 in Coburg, Gotha, Berlin, Frankfurt und Leipzig mit. Für eine Mitgestaltung der Feiern zum 100. Geburtstag Friedrich Schillers im November 1859 kam die Gründung des
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