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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Nationalvereins geführt hatte.
    Am 6. Juni 1861, kurz nach der Verabschiedung des zweiten «Provisoriums», gingen die «entschiedenen Liberalen» noch einen Schritt weiter: Sie gründeten in Berlin die Deutsche Fortschrittspartei – die erste deutsche Partei überhaupt, wenn man denn unter «Partei» einen auf Dauer angelegten, fest organisierten Zusammenschluß von politisch Gleichgesinnten versteht. Die Fortschrittspartei stellte sich mit einem ausgefeilten Programm vor, in dem sie sich zur «strengen und konsequenten Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaates», zur zweijährigen Dienstzeit und zur Beibehaltung der Landwehr bekannte und eine feste Einigung Deutschlands unter preußischer Führung sowie eine gemeinsame deutsche Volksvertretung forderte. Wie der Nationalverein, als dessen «Exekutive» in Preußen sich die Fortschrittspartei betrachtete, stellte die neue Gruppierung Trennendes zurück: Die Demokraten mochten sich weiterhin für das allgemeine gleiche, die Liberalen für ein Zensuswahlrecht einsetzen, im Vordergrund stand das, worauf man sich im Parteiprogramm verständigt hatte. Das war auch schon deswegen notwendig, weil im Dezember 1861 Wahlen zum Abgeordnetenhaus anstanden. Die Deutsche Fortschrittspartei ging aus diesem Urnengang mit 109 Mandaten als stärkste Partei hervor. Die Konservativen erlitten eine schwere Niederlage, während die Altliberalen und das von ihnen abgespaltene Linke Zentrum sehr gut abschnitten. Zusammen verfügten die liberalen Fraktionen über eine breite Mehrheit.
    Eine unmittelbare Folge des Wahlsieges der «entschiedenen Liberalen» war ein Antrag der Fortschrittspartei auf stärkere Spezialisierung des Etats noch im laufenden Haushaltsjahr. Auf diese Weise sollte die Regierung daran gehindert werden, die Mehrkosten der Heeresreform wie bisher aus anderen Etatmitteln zu decken. Obwohl der altliberale Finanzminister von Patow von einem Mißtrauensvotum sprach, wurde der Antrag am 6. März 1861 mit klarer Mehrheit angenommen. Fünf Tage später löste König Wilhelm I. das Abgeordnetenhaus auf. Am 14. März entließ er das Ministerium, das er zu Beginn der Neuen Ära berufen hatte. Dem Nachfolgekabinett gehörten nur noch konservative Minister an.
    Die Neuwahl des Abgeordnetenhauses fand am 6. Mai 1862 statt. Die Verlierer waren die Konservativen, die Katholische Fraktion und die Altliberalen. Die Fortschrittspartei gewann 40 Mandate hinzu; zusammen mit dem Linken Zentrum verfügte sie über eine sichere Mehrheit. Insgesamt kamen die liberalen Fraktionen auf vier Fünftel der Sitze. Ein letzter Kompromißversuch auf der Grundlage der zweijährigen Dienstzeit, den die Abgeordneten Karl Twesten von der Fortschrittspartei und Heinrich von Sybel vom Linken Zentrum Mitte September vorlegten, schien dem Kabinett und sogar dem Kriegsminister von Roon einen vertretbaren Ausweg aus der Krise zu weisen. König Wilhelm I. aber lehnte jedes Abweichen von der dreijährigen Dienstzeit strikt ab. Zeitweilig dachte er sogar an Rücktritt. Der Mann, der ihn von solchen Absichten abbrachte, war von Roon telegraphisch aus dem Urlaub in Biarritz nach Berlin gerufen worden: Otto von Bismarck, seit Mai 1862 preußischer Botschafter in Paris. In langen Gesprächen im Schloß und Park von Babelsberg konnte Bismarck seinen König am 22. September 1862 davon überzeugen, daß der Konflikt mit dem Abgeordnetenhaus mit letzter Konsequenz ausgefochten werden mußte, um das königliche Regiment zu erhalten und eine Parlamentsherrschaft zu verhindern. Noch am gleichen Tag übertrug Wilhelm I. Bismarck die vorläufige Leitung des Staatsministeriums.
    Um seinen Standpunkt juristisch zu begründen, argumentierte Bismarck gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit mit der sogenannten «Lückentheorie»: Wenn der in der Verfassung nicht vorgesehene Fall eintrat, daß eine der beiden Kammern durch Verweigerung notwendiger Budgetmittel das Gleichgewicht der drei gesetzgebenden Gewalten, also König, Herrenhaus und Abgeordnetenhaus, außer Kraft setzte, so hatte, gemäß dem monarchischen Prinzip, das vom König eingesetzte Staatsministerium die Pflicht, solange ohne Haushaltsgesetz zu regieren, bis die Kammer die in der Zwischenzeit getätigten Ausgaben nachträglich für gesetzlich erklärte. Tatsächlich widersprach das Regieren ohne parlamentarisch bewilligtes Budget der preußischen Verfassung. Im Sinne eines übergesetzlichen Staatsnotstands hätten sich lediglich Ausgaben

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