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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Wochen später, am 27. März erklärte das Parlament Rom zur künftigen Hauptstadt Italiens. Der Mann, der am meisten für die italienische Einigung getan und zuletzt noch über den weit populäreren Garibaldi triumphiert hatte, konnte auf die weitere Entwicklung seines Landes keinen Einfluß mehr nehmen: Am 6. Juni 1861, zwei Monate vor seinem 51. Geburtstag, starb völlig unerwartet Graf Camillo di Cavour, der erste Ministerpräsident des Königreichs Italien.
    In seinen letzten Monaten hatte sich Cavour noch, wenn auch erfolglos, um einen Ausgleich mit der katholischen Kirche gemäß seinem Motto «libera chiesa in libero stato» (freie Kirche im freien Staat) bemüht. Papst Pius IX. hatte an einer Verständigung mit dem Staat, der ihm soeben einen Großteil seines Territoriums weggenommen hatte, kein Interesse, und bei der Linken stieß jeder Versuch einer Annäherung zwischen Staat und Kirche auf argwöhnischen Protest. Im Gegensatz zu den Linken und vielen Liberalen wollte Cavour auch Napoleon III. nicht durch eine Politik verprellen, die auf eine rasche Angliederung Venetiens und Roms abzielte. Die liberale Partei, die Cavour gegründet hatte, die «Destra storica» (Historische Rechte), blieb noch bis 1876 an der Regierung. Aber keiner seiner Mitstreiter, die in diesen Jahren das Amt des Ministerpräsidenten innehatten, verfügte über ein ähnliches hohes Maß an politischem Wirklichkeitssinn und persönlicher Autorität wie er.
    Die Gründer des italienischen Nationalstaates waren von der Annahme ausgegangen, daß es trotz aller sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den Italienern seit langem so etwas wie eine italienische Nation gab. Nach 1861 zeigte sich, daß der Graben zwischen Nord und Süd viel tiefer war, als die Optimisten geglaubt hatten. Im Norden hatten sich, nicht zuletzt dank Cavours liberaler Wirtschaftspolitik, moderne Industrien entwickelt, der Süden hingegen blieb weiterhin geprägt von großen Latifundien und einer breiten Masse von landarmen Kleinbauern und Landarbeitern ohne eigenen Grund und Boden. Die Zahl der Analphabeten, die in ganz Italien nach der Volkszählung von 1861 bei 78 Prozent lag, war im Süden sehr viel höher als im Norden: Während in Piemont und den ehedem habsburgischen Gebieten rund die Hälfte der Einwohner des Lesens und Schreibens kundig war, verfügten im einstigen Königreich beider Sizilien und in Sardinien nur 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung über diese Fähigkeiten.
    Die wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit des Mezzogiorno fand in den ersten Jahren des Königreichs Italien ihren Ausdruck in den blutigen Aufständen der «Briganten», die als Partisanen gegen den modernen Staat in allen seinen Erscheinungsformen kämpften und nur mit Hilfe der Armee niedergeworfen werden konnten. Der Aufbau eines straff zentralistischen Staates nach französischem Vorbild unter Cavours unmittelbarem Nachfolger Ricasoli erwies sich als ungeeignetes Mittel, um die regionalen Unterschiede einzuebnen. Der Einheitsstaat verschärfte vielmehr den Gegensatz zwischen Regierenden und Regierten, für den schon das Zensuswahlrecht sorgte: 98 von 100 Italienern hatten keine Möglichkeit, ihren politischen Willen durch Stimmabgabe zu bekunden.
    Daß die Hauptstadt des Königreiches Italien zunächst in Turin, also im hohen Norden des Landes, lag, war kein Ausdruck der Geringschätzung des Südens, sondern die demonstrative Betonung der Tatsache, daß die Einigung Italiens noch nicht abgeschlossen war. Frankreich, dessen Veto Rom als Hauptstadt verhindert hatte, hielt die Entscheidung für das Provisorium Turin für einen Fehler, der der Korrektur bedurfte, und setzte sich mit diesem Standpunkt durch. In der innenpolitisch höchst umstrittenen «Septemberkonvention» von 1864 verpflichtete sich das Königreich Italien, die Hauptstadt nach Florenz zu verlegen und den Fortbestand des Kirchenstaates zu garantieren. Dafür versprach Frankreich, seine Garnison in Rom, die es dort seit 1849 unterhielt, innerhalb von zwei Jahren abzuziehen.
    Der Hauptstadtwechsel von Turin nach Florenz im Jahre 1865 (und fünf Jahre später von Florenz nach Rom) trug nicht dazu bei, den Gegensatz zwischen dem Norden und dem Süden abzumildern. Der junge Nationalstaat war einstweilen nicht mehr als der Rahmen, in dem sich der Prozeß der Nationsbildung vollziehen konnte. Aber daß es diesen Nationalstaat nunmehr gab, wurde nicht nur von den meisten Italienern als historischer Fortschritt

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