Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Nationalvereins zu spät. Um so größer war sein Anteil an den zahlreichen Feiern zum 100. Geburtstag Johann Gottlieb Fichtes im Mai 1862 und den Veranstaltungen im Rahmen einer «Reichsverfassungskampagne» im Frühjahr 1863. Der Nationalverein sammelte Geld für den Wiederaufbau der 1852 versteigerten deutschen Flotte und übergab es (bis zum Frühjahr 1862) dem preußischen Marineministerium. Die von Rochau herausgegebene «Wochenschrift» des Nationalvereins diente als Organ des politischen Gedankenaustausches zwischen den Liberalen und Demokraten im ganzen nichtösterreichischen Deutschland. In gewisser Weise war der Deutsche Nationalverein ein Parteiersatz – oder, anders gewendet, ein Vorgriff auf eine Parteigründung, die im gesamtdeutschen Maßstab noch nicht möglich war.
Anders sah es auf einzelstaatlicher Ebene aus. Hier bedurfte es nur eines politischen Anstoßes, um Teile des Liberalismus und der Demokraten in eine Verbindung nach dem Vorbild des Deutschen Nationalvereins zu bringen. In Preußen hieß dieser Anstoß: Heeresreform. Die letzte große Reform des Militärwesens war die von Scharnhorst aus dem Jahr 1814 gewesen. Inzwischen war die Bevölkerung von 11 auf 18 Millionen angewachsen. Die Heeresstärke aber war noch immer dieselbe wie die, die König Friedrich Wilhelm III. 1817 festgelegt hatte: Von jährlich 180.000 Wehrpflichtigen wurden nur etwa 40.000 eingezogen. Der Prinzregent, Prinz Wilhelm, wollte das ändern, ja er räumte der Heeresreform absoluten Vorrang vor allen anderen politischen Zielen ein.
Zur Heeresreform gehörte jedoch mehr als nur die Erhöhung der Rekrutenzahl. Mindestens ebenso wichtig war die geplante Umschichtung zwischen Landwehr und Linientruppen: Die drei jüngsten Jahrgänge der Landwehr sollten in die Reserve und damit in die Linie eingegliedert werden, was eine Schwächung des «bürgerlichen» Elements des preußischen Militärwesens bedeutete. «Antibürgerlich» mußte auch eine andere Maßnahme wirken: die Reaktivierung der dreijährigen Dienstzeit. Unter rein militärischen Gesichtspunkten hätte die seit 1848 praktizierte zweijährige Dienstzeit völlig ausgereicht. Für Prinz Wilhelm, Kriegsminister von Roon und die Generalität gab es aber einen politischen Grund, der für das dritte Jahr sprach: die Erziehung der Rekruten zu Trägern des preußischen Soldatenstaates, auf die man sich notfalls auch im Kampf gegen innere Feinde verlassen konnte.
Die Demokraten und viele jüngere Liberale sahen im Vorhaben von Prinzregent und Regierung das, was es war: eine Kampfansage an das fortschrittlich gesinnte Bürgertum. Die stärkste der liberalen Gruppierungen, die Fraktion Vincke, aber hielt sich weiterhin an die Devise «Nur nicht drängeln!» und bewilligte, zusammen mit den Altliberalen, den Konservativen und der Katholischen Fraktion, der Regierung zweimal, im Januar 1860 und im Frühjahr 1861, ein «Provisorium», das es dem Staatsministerium gestattete, die Heeresreform in Angriff zu nehmen und damit vollendete Tatsachen zu schaffen. Zwischen dem ersten und dem zweiten «Provisorium» lag der Thronwechsel: Am 18. Januar 1861, etwa zwei Wochen nach dem Tod Friedrich Wilhelms IV., hatte sich der bisherige Prinzregent als Wilhelm I. in Königsberg zum König von Preußen krönen lassen. Seitdem betrieb er die Reform des Militärwesens mit noch stärkerem Nachdruck als zuvor.
Das Abgeordnetenhaus hatte zwar nicht über die militärorganisatorische, wohl aber über die haushaltsrechtliche Seite der Heeresreform zu entscheiden. Durch die Bewilligung des «Provisoriums» begaben sich die parlamentarischen Vertreter des Liberalismus des wichtigsten Hebels, dessen sie sich bedienen mußten, wenn es ihnen mit der Absage an eine gegen das Bürgertum gerichtete und die Volkswirtschaft schwer belastende Reorganisation des Militärwesens ernst war. Da sich die Fraktion Vincke dieser Logik verschloß, formierte sich seit Herbst 1860 Protest. Im Februar 1861 trennten sich elf jüngere Abgeordnete, die meisten von ihnen aus Ost- und Westpreußen (und darum von Vincke als «Junglithauer» bespöttelt), von der Fraktion und bildeten zunächst einen «parlamentarischen Verein», dem wenig später auch zwei, durch Nachwahlen ins Parlament gelangte, prominente Demokraten, Benedikt Waldeck und Hermann Schulze-Delitzsch, beitraten. Damit bahnte sich auch in Preußen eine Zusammenarbeit von Liberalen und Demokraten an, wie sie im September 1859 zur Gründung des Deutschen
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