Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Jahrhundert aus fiskalischen Gründen eingeführt worden, um eine in gewissen Abständen erforderliche Neuverteilung von Boden vorzunehmen. Der «mir» blieb auch erhalten, als Alexander II. am 19. Februar 1861 die größte Reform seiner 26 Jahre währenden Regierungszeit verkündete: das Dekret über die Aufhebung der Leibeigenschaft der 21,5 Millionen Adelsbauern. Von sofortiger, vollständiger Befreiung konnte allerdings keine Rede sein. Bis die Bauern «frei» wurden, vergingen, je nach der Qualität der Böden, zwei bis zwanzig Jahre. Die Adligen wurden für das abgegebene Land mit 80 Prozent des Kaufpreises entschädigt; die Bauern mußten diesen Betrag in 49 Jahresraten an den Staat zurückzahlen. Das knapp bemessene Land, das die Bauern erhielten, war meist von schlechter Qualität. Es wurde ihnen auch nicht, wie es bei der preußischen Bauernbefreiung von 1807 geschah, als privates Eigentum übertragen, sondern als kollektives Eigentum der Dorfgemeinde.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft hatte infolgedessen nicht die Entstehung eines freien Bauerntums, sondern die Weiterentwicklung einer Zwangsgenossenschaft mit beschränkter Selbstverwaltung zur Folge. Der «mir» haftete für die Steuerzahlungen der Bauern; an ihn ging die Polizeigewalt des Gutsherrn über. Die Bauern durften aus ihrer Gemeinde nur wegziehen, wenn sie ihren Anteil sofort bezahlten oder sich mit einem «Bettelanteil» zufrieden gaben. 1863 folgte die Befreiung der etwa 2 Millionen Apanagenbauern, die auf Gütern von Großfürsten aus dem Hause der Romanows arbeiteten, 1866 die der 19 Millionen Staatsbauern, und zwar in beiden Fällen zu deutlich besseren Bedingungen als die Adelsbauern. Am schlechtesten gestellt waren die landlosen Bedienten des Gutsherrn, die oft keine andere Möglichkeit hatten, als ins städtische Proletariat abzuwandern.
Die «Slawophilen» konnten mit der russischen Art von Bauernbefreiung zufriedener sein als die «Westler». Aber auch unter diesen gab es manche, die seit den gescheiterten Revolutionen von 1848 bei ihrem Erneuerungsstreben an russische Tradition anzuknüpfen begannen. Einer von ihnen war Alexander Herzen, der seit 1852 im Londoner Exil lebte. Er pries zeitweilig die Bauernbefreiung und machte aus dem «mir» sogar die Keimzelle eines russischen Agrarsozialismus: eine Vorstellung, die sogleich von den «Narodniki» oder «Volksfreunden», den revolutionären, meist studentischen Agitatoren der letzten vier Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, und, mit gewissen Einschränkungen, schließlich auch von Karl Marx übernommen wurde. So unzulänglich, gemessen an westlichen Maßstäben, die Aufhebung der Leibeigenschaft auch war, so erhöhte sie doch die soziale Mobilität in Rußland und förderte die Industrialisierung, die erst spät, in den 1850er Jahren, eingesetzt hatte. Das Dekret von 1861 war ein Beitrag zur Modernisierung des Zarenreiches und zugleich ein Auftakt zu weiteren Reformen, die demselben Ziel dienten.
Die bedeutendsten dieser Neuerungen betrafen die Einführung der Selbstverwaltung und die Umgestaltung der Justiz. Ein Gesetz vom 1. Januar 1864 schuf Selbstverwaltungsorgane auf der Ebene der Kreise und der Gouvernements, die sogenannten Semtswo- oder Landschaftsversammlungen. Die Kreisversammlungen wurden nach einem Wahlrecht gewählt, das den Adel begünstigte, ihm aber nicht automatisch eine Mehrheit gegenüber Bauern und Stadtbewohnern gab. Die Kreisversammlungen wählten die Gouvernementsversammlungen, in denen das Übergewicht des Adels sehr viel stärker in Erscheinung trat. Die staatliche Oberaufsicht blieb gewahrt; sie ging bis zum Vetorecht gegen die Beschlüsse der Semstwoversammlungen. Die Kreis- und Gouvernementsversammlungen wurden 1864 auch nicht im gesamten Zarenreich, sondern nur in den als zuverlässig geltenden Gouvernements eingeführt: Der Kaukasus und Sibirien waren vorerst von der Reform ausgenommen. Dennoch bedeutete das Gesetz einen wichtigen Schritt in Richtung Selbstverwaltung, vor allem auf den Gebieten Bildung, Gesundheits- und Verkehrswesen. Sechs Jahre später, 1870 erhielten die Städte eine Selbstverwaltung nach preußischem Vorbild. Der autoritäre und zentralistische Charakter des Staatswesens wurde durch die Selbstverwaltungsgesetze nicht beseitigt, aber doch spürbar gemildert.
Das Gesetz über die Justizreform vom 20. November 1864 sagte der Korruption des Rechtswesens den Kampf an, der die bisherige Praxis geheimer, schriftlicher und bürokratisch
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