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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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geführter Verfahren Tür und Tor geöffnet hatte. Seit 1865 fanden in zunächst zehn zentralen Gouvernements, später dann in allen, die Verhandlungen öffentlich und mündlich statt; gleichzeitig wurden die Grundsätze der Unabhängigkeit der Justiz, der Unabsetzbarkeit der Richter und der Gleichheit vor Gericht gesetzlich verankert. Friedensrichter, die in Streitigkeiten von geringerer Bedeutung zu schlichten hatten, wurden von den Kreisversammlungen auf die Dauer von drei Jahren gewählt. Die Reform von 1864 führte zur Entstehung einer modernen Anwaltschaft; die Unabhängigkeit der Richter und der neugeschaffenen Geschworenengerichte bewährte sich in der Folgezeit auch in brisanten politischen Verfahren, unter anderem gegen Attentäter aus den Reihen der «Narodniki».
    Von dem Erneuerungswillen des «Zar-Befreiers» und seiner Berater profitierten auch die Hochschulen. 1863 erhielten die Universitäten die Autonomie und die Professoren die Lehrfreiheit zurück, die Alexanders Vater, Nikolaus I., ihnen genommen hatte. 1865 entfiel die Vorzensur für Zeitungen, Zeitschriften und wissenschaftliche Werke größeren Umfangs (kürzere Publikationen galten pauschal als gefährlicher, weil leichter lesbar). Zu den Reformen gehörte auch die des Militärwesens, die 1874 von Kriegsminister Miljutin gegen viele Widerstände durchgesetzt wurde. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ging einher mit der Absenkung der Dienstzeit von 25 auf sechs Jahre, wobei der Erwerb von Bildungsqualifikationen zu einer Verkürzung des Militärdienstes führen konnte. Dazu kamen die Abschaffung von Körperstrafen und die Zurückdrängung des «Drills». In der Summe liefen die Neuerungen Alexanders II. auf einen kräftigen Modernisierungsschub und einen Zugewinn an Transparenz (glasnost) hinaus – ein Schlagwort, das «Westler» wie «Slawophile» benutzten und das 120 Jahre später, in der kurzen Ära Gorbatschow, erneut zu Ehren kommen sollte. Die Grenzen der Erneuerung waren die für eine Reform von «oben» typischen: Das Machtzentrum behielt alles unter seiner Kontrolle, was ihm unter dem Gesichtspunkt der Machterhaltung wesentlich erschien.
    Auch in Polen, wo es seit dem italienischen Unabhängigkeitskrieg immer wieder zu patriotischen Demonstrationen gegen die russische Herrschaft gekommen war, wollte Alexander II. neue Akzente setzen. Die 1862 eingeleitete Erweiterung der polnischen Autonomie führte aber zu keiner Beruhigung. Im Januar 1863 brach ein neuer polnischer Aufstand aus, vorbereitet von den «Roten» oder «Demokraten» und ausgelöst durch die von Graf Alexander Wielopolski, dem Chef der Zivilregierung, angeordnete Einberufung von 10.000 jungen Männern, die der Sympathie für die Aufrührer verdächtigt wurden. Die Erhebung dauerte 15 Monate lang und wurde rasch zu einem Thema der «großen Politik» der europäischen Mächte. Napoleon III. und sein Außenminister Alexandre Graf Colonna-Walewski, der außereheliche Sohn Napoleons I. und der polnischen Gräfin Maria Walewska, ermunterten die Aufständischen; Frankreich, Großbritannien und Österreich forderten im April 1863 Rußland auf, das Königreich Polen gemäß den Beschlüssen des Wiener Kongresses wiederherzustellen. Bismarck hingegen gab im Namen Preußens dem Zarenreich volle Rückendeckung: Die «Konvention Alvensleben» vom 8. Februar 1863 gestattete es den Russen, polnische Aufständische auch jenseits der Reichsgrenze, auf preußischem Gebiet, zu verfolgen.
    Trotz breiter propagandistischer Unterstützung durch Liberale, bürgerliche Radikale und Sozialisten Westeuropas von Victor Hugo über Mazzini bis zu Marx konnten die rebellierenden Polen den Russen keine entscheidenden Schläge versetzen – auch nicht, nachdem der Aufstand im Mai 1863 auf Galizien und Weißruthenien übergegriffen hatte. Im April 1864 endeten die letzten Kämpfe mit der seit langem absehbaren Niederlage der polnischen Freiheitskämpfer. Die unmittelbare Folge des Aufstands war die Beseitigung der verbliebenen Reste von Autonomie in Russisch-Polen, das jetzt häufig «Weichselgebiet» genannt wurde. Das Ausbleiben westlicher Hilfe und die Weigerung der meisten Bauern, sich am Aufstand zu beteiligen, ließ viele Polen resignieren. Andere zogen aus den Ereignissen von 1863/64 die Folgerung, daß die innere Einigung Polens und namentlich die Gewinnung der Landbevölkerung wichtiger als alles andere war, wenn die nationale Unabhängigkeit eines Tages doch noch erreicht werden

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