Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
sollte.
Unterdrückung war das Merkmal der russischen Politik unter Alexander II. auch in der Ukraine: Der Gebrauch der ukrainischen Sprache wurde 1863 für wissenschaftliche und religiöse, 1876 für alle Publikationen wie auch in Theatern verboten. Über viele Jahrzehnte hinweg erstreckte sich die Russifizierung der 53 Völkerschaften und 14 Stämme des Kaukasus, die um 1840 einsetzte. 1863 begann die Eroberung Zentralasiens und damit das Eindringen Rußlands in altes islamisches Kulturgebiet; 1865 wurde Taschkent, zwei Jahre später Samarkand eingenommen. Zwei Khanate, Buchara und Chiwa, blieben als eigenständige Fürstentümer unter russischer Oberhoheit bestehen. Mittelasien war wirtschaftlich vor allem wegen der großen Gebiete wichtig, in denen Baumwolle angebaut wurde. Politisch stärkte die neue zentralasiatische Bastion Rußlands Stellung gegenüber Britisch-Indien. Die neu eroberten Gebiete wurden durch Eisenbahnen mit dem übrigen Reich verbunden; ihre Metropolen mußten die Errichtung ganzer russischer Stadtteile hinnehmen. Am muslimischen Charakter des «Gouvernements Turkestan» aber änderte sich nichts. Zentralasien wurde weder christianisiert noch wurde seinen Bewohnern die russische Sprache aufgezwungen.
Expansion und Eisenbahnbau, Reformen und Repression dienten einem gemeinsamen Zweck: Rußland sollte sich als Großmacht behaupten und damit die Erfahrung der Niederlage von 1856 ins Positive wenden. Finanziell aber befand sich der Staat infolge des Krimkrieges in einer schweren Krise; durch die Kosten des Eisenbahnbaus und die Ausgleichszahlungen an den Adel nach der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde sie weiter verschärft. Das Streckennetz der Eisenbahn wuchs zwischen 1860 und 1870 um das Siebenfache (von 1600 auf 11.200 Kilometer); bis 1880 verdoppelte es sich nochmals; 1910 belief es sich auf 77.000 Kilometer. Der Eisenbahnbau ging fast ausschließlich auf staatliche Initiative zurück; er wurde zu großen Teilen mit deutschem Kapital finanziert und entwickelte sich, wie in anderen Ländern, zum Leitsektor der Industrialisierung, besonders spürbar in den Bereichen Kohleförderung und Maschinenbau. Um die Staatsverschuldung abzubauen, wurde das Bank- und Kreditwesen seit Ende der 1850er Jahre radikal reformiert: An die Stelle des staatlichen Kreditmonopols trat ein privates Bankwesen; der Staat gab nur noch Bürgschaften für in- und ausländische Kapitalinvestitionen. Die öffentliche Verschuldung aber stieg weiter an und gleichzeitig die Abhängigkeit von ausländischem Kapital. Von einem sich selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwung konnte im Rußland Alexanders II. keine Rede sein.
Seit 1866 ließ der Reformeifer des «Zar-Befreiers» deutlich nach. Das fehlgeschlagene Attentat eines Studenten führte zu einer reaktionären Wende in der Bildungspolitik, und dieser Kurswechsel gab seinerseits der Radikalisierung unter Studenten und Intellektuellen Auftrieb. Die «Narodniki», die in den Jahren zuvor bei ihren Versuchen, die Bauern mit revolutionärem Geist zu erfüllen, keinen Erfolg gehabt hatten, wandten sich jetzt auch der Agitation im städtischen Proletariat zu. In den siebziger Jahren gingen die «Narodniki» immer mehr zu terroristischen Aktionen über. Sie beriefen sich dabei auf Nikolai Tschernyschewski, der 1863 in seinem Roman «Was tun?» die Vision einer von Adel befreiten, kommunistischen Gesellschaft entworfen hatte, oder folgten der nihilistischen Gewaltverherrlichung, wie sie Sergej Netschajew propagierte. Der Begriff «Nihilismus» stammt aus dem Rußland jener Jahre: Iwan Sergejewitsch Turgenjew hat ihn 1862 in seinem Roman «Väter und Söhne» geprägt und in der Figur des Arztes und Naturwissenschaftlers Basarow, eines konsequenten Materialisten und Antiidealisten, Gestalt annehmen lassen.
Mit den Ideen der radikalen Linken konkurrierte auf der anderen Seite des politischen Spektrums die panslawistische Bewegung, die 1867 einen großen Slawenkongreß in Moskau abhielt und zwei Jahre später durch das Buch «Rußland und Europa» des Biologen Nikolai Danilewski ein ideologisches Fundament erhielt. Rußland sollte, wenn es nach Danilewski und seinen Gefolgsleuten ging, die Führung der slawischen Völker, aber auch der orthodoxen Rumänen und Griechen, in der Auseinandersetzung mit dem alten, dekadenten Europa übernehmen und so zu neuer nationaler, ja imperialer Größe gelangen.
Zu den Wortführern einer weltgeschichtlichen Sendung Rußlands gehörte auch
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