Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
angenommen. Gegen das Gesetz stimmten die meisten Abgeordneten der Fortschrittspartei, ein Teil des Linken Zentrums und ein Teil der Katholischen Fraktion, dafür die Konservativen und eine Minderheit der «entschiedenen Liberalen».
Die Spaltung innerhalb der Fortschrittspartei bei der Abstimmung vom 3. September führte rasch zur organisatorischen Verselbständigung des rechten Parteiflügels. Am 24. Oktober 1866 verabschiedeten 24 Abgeordnete der Fortschrittspartei und des Linken Zentrums, die dem Indemnitätsgesetz zugestimmt hatten, unter ihnen die Juristen Karl Twesten und Eduard Lasker, eine Erklärung, in der sie der Regierung Unterstützung im Bereich der deutschen Politik in Aussicht stellten, im Bereich der inneren Politik aber, wo eine vergleichbare Wendung bisher nicht erfolgt war, eine wachsame und loyale Opposition ankündigten. Mitte November folgte der Zusammenschluß zur «Fraktion der nationalen Partei», der Keimzelle der im Februar 1867 gegründeten Nationalliberalen Partei.
Für die Nationalliberalen verstand es sich nachgerade von selbst, daß mehr innenpolitische Freiheit nur im Zusammenwirken mit Bismarck und nur zusammen mit Fortschritten auf dem Wege zur Einheit Deutschlands zu erreichen war. «Ist denn die Einheit nicht selbst ein Stück Freiheit?», fragte im Dezember 1866 ein ehemaliger Teilnehmer der Reichsverfassungskampagne in der Pfalz, Ludwig Bamberger, anläßlich der Landtagswahlen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt in einem Wahlaufruf. Es war zu diesem Zeitpunkt nur noch eine rhetorische Frage. Bismarck mochte als Sieger aus dem Verfassungskonflikt hervorgegangen sein, aber deswegen bedeutete die Zustimmung zum Indemnitätsgesetz nach Meinung der Nationalliberalen noch längst keine Niederlage oder gar Kapitulation des Liberalismus – jedenfalls dann nicht, wenn man die Chance nutzte, zusammen mit dem preußischen Ministerpräsidenten etwas für die Sache von Einheit und Freiheit zu tun. Bismarck galt dem rechten Flügel des Liberalismus seit dem Herbst 1866 nicht mehr als Repräsentant des alten Systems, sondern als Lehrmeister auf dem Gebiet einer nationalen «Realpolitik» – als ein deutscher Cavour, von dem man erwarten durfte, daß er im wohlverstandenen Interesse Preußens auf dem Weg zur deutschen Einheit weiter voranschreiten würde, so wie der Ministerpräsident des Königreiches Sardinien-Piemont im Bunde mit den Liberalen auf die Einigung Italiens hingearbeitet hatte.
Das Königreich Italien machte im Jahre 1866 ebenfalls einen wichtigen Schritt in Richtung Vollendung der nationalen Einheit. Doch den Anschluß Venetiens, der durch Plebiszit eindrucksvoll bestätigt wurde, verdankte Italien nicht militärischen Erfolgen seines Heeres und seiner Flotte im dritten Krieg um die Unabhängigkeit, sondern dem Sieg Preußens über Österreich und der Vermittlung Napoleons III. Die Niederlagen von Custozza und Lissa bedrückten Militärs, Politiker und die öffentliche Meinung, und das dämpfte die Freude über die beträchtliche Vergrößerung des italienischen Staatsgebiets. Dazu kam, daß weder Bismarck noch Napoleon III. sich die Forderung nach der Angliederung des Trentino, auf deutsch «Welschtirol» genannt, zu eigen gemacht hatten. Dort waren nach Custozza Freischärler unter Führung Garibaldis eingerückt, die nach dem Abschluß des Waffenstillstands Anfang Juli 1866 wieder abziehen mußten.
Das Augenmerk vieler Italiener richtete sich fortan verstärkt auf jene Gebiete, die sich das Königreich Italien bisher nicht hatte einverleiben können: nicht nur Rom, den verbliebenen Rest des Kirchenstaates, der unter dem besonderen Schutz des Kaisers der Franzosen stand, sondern auch Trient, Triest und Istrien, die nach wie vor zum Habsburgerreich gehörten, ja sogar das deutschsprachige Südtirol, dessen Besitz Italien die strategisch wichtige Brennergrenze eingebracht hätte. Es war das Programm der «Irredenta», der «unerlösten Gebiete», das damals Konturen annahm. Noch handelte es sich um die politischen Visionen einer kleinen Minderheit. Doch das Trauma der Niederlagen von 1866 wirkte nach und trug mit dazu bei, daß der italienische Nationalismus im Verlauf der folgenden Jahrzehnte eine Dynamik entwickelte, die mit der kühlen Vernunft des Staatsgründers, des Grafen Camillo di Cavour, nichts mehr gemein hatte.
«Dieser Krieg hat uns vieler Illusionen beraubt», schrieb 1866 der Historiker Pasquale Villari, «vor allem aber hat er uns jenen
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