Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Zahlungen der Arbeiter abhingen. Größere Bedeutung hatte die bedingte Aufhebung des Streikverbots, das seit der «Loi Le Chapelier» von 1791 bestand, im Mai 1864. Die Arbeiter nutzten die neugewonnene Freiheit für gewerkschaftliche Zusammenschlüsse und Arbeitsniederlegungen mit dem Ziel höherer Löhne und niedrigerer Arbeitszeiten.
Schon kurz vor der Verabschiedung des Streikverbots, im Februar 1864, hatten 60 Arbeiter des Departements Seine in einem Manifest die soziale Emanzipation und politische Aktionsfreiheit der Arbeiterschaft gefordert. Der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation im September 1864 trug wesentlich dazu bei, daß die Ideen von Marx, obenan der Gedanke der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, sich nun auch in Frankreich verbreiteten und den Einfluß Proudhons und des von ihm gepredigten gewaltlosen Anarchismus zurückzudrängen begannen. Der Wirtschaftsaufschwung unter dem Zweiten Kaiserreich hatte allen Klassen materielle Verbesserungen gebracht, der Bourgeoisie aber in ungleich höherem Maß als dem Proletariat, so daß die Forderung nach einer Umverteilung der gesellschaftlichen Macht sich den Betroffenen förmlich aufdrängte. Das Gesetz vom Mai 1864 bot die Möglichkeit, diesem Ziel schrittweise näher zu kommen, und erleichterte es den Sozialisten, innerhalb der von bürgerlichen Radikalen geführten, teils parlamentarischen, teils außerparlamentarischen Opposition gegen das bonapartistische System zu einer eigenständigen Kraft zu werden.
Die Aufhebung des Streikverbots war Teil einer vorsichtigen Liberalisierung, für die sich Napoleon III. 1859/60 entschied, weil er sich davon breitere Zustimmung zu seinem Regime versprach. Die erste Reform vom November 1860 gab der Legislative das Recht, nach der Thronrede eine Generaldebatte zu führen; die Sache der Regierung sollten aber nicht die Fachminister, sondern drei Staatsminister ohne eigenes Ressort vertreten. Da sich diese Praxis nicht bewährte, wurde nach den Wahlen von 1863 nur noch ein Staatsminister berufen: der angesehene und rhetorisch begabte Eugène Rouher, der damit in eine politische Schlüsselposition des Zweiten Kaiserreiches hineinwuchs.
Die Wahlen von 1863 waren die dritten seit 1852 und die ersten, die seit der weitgehenden Lockerung der Pressezensur der Jahre 1861 stattfanden. Die Zahl der Stimmen, die für oppositionelle Kandidaten abgegeben wurden, hatte sich gegenüber den vorangegangenen Wahlen von 1857 fast verdreifacht: Sie wuchs von 665.000 auf 1,95 Millionen (gegenüber 5,5 beziehungsweise 5,3 Millionen für die «offiziellen» Bewerber bei nur geringfügig gesunkener Zahl der Wahlberechtigten und einer deutlich niedrigeren Zahl von Enthaltungen). Das Ergebnis veranlaßte den Kaiser, sein Kabinett umzubilden und einen prominenten «Bonapartisten», Innenminister Jean-Gilbert Victor Fialin de Persigny, in den Ruhestand zu versetzen (und ihm gleichzeitig den Titel eines Herzogs zu verleihen). Als informeller Führer der gemäßigten republikanischen Opposition trat der Historiker Adolphe Thiers hervor, der unter Louis Philippe zweimal das Amt des Ministerpräsidenten innegehabt hatte. Er gehörte fortan zu den schärfsten Kritikern des Kaisers und namentlich seiner Außenpolitik.
Den stärksten Rückhalt Napoleons III. bildeten auch in den sechziger Jahren die Bauern, die nach wie vor größte Gruppe der Gesellschaft. 1856 lebten 53,1 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft, 1866 noch 51,5 Prozent. Der Anteil der Franzosen, die in Gemeinden mit bis zu 2000 Bewohnern lebten, sank in diesen zehn Jahren ungeachtet der fortschreitenden Industrialisierung nur leicht, von 72,7 auf 69,5 Prozent. Die republikanische Opposition gegen Napoleon III. war ein wesentlich städtisches Phänomen, getragen von Arbeitern und Kleinbürgern, aber zunehmend auch von Teilen der Bourgeoisie. Vor allem letztere hatte die Regierung im Blick, als sie in den Jahren 1865 und 1866 durch eine Erziehungsreform den kirchlichen Einfluß auf das Schulwesen beschnitt und Legislative und Senat das Recht der Interpellation nach der Thronrede einräumte. Die Neuerungen im Schulwesen wären wohl kaum erfolgt, wenn sich das Verhältnis zwischen dem Second Empire und der katholischen Kirche mit der (von Napoleon III. gebilligten) Annexion des größten Teiles des Kirchenstaates durch das Königreich Piemont-Sardinien im September 1860 nicht ohnehin stark abgekühlt hätte.
Das wichtigste Vorhaben des
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