Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
seiner Sicht bedeutete die Sprengung des Deutschen Bundes für das deutsche Volk «eine Zerstörung seiner politischen Basis und eingewöhnten Lebensbedingungen … wie seit tausend Jahren nicht. Das Neue hatte definitiv gesiegt über das Alte; das besiegte Alte aber datiert nicht erst von 1815 herwärts, sondern bis auf Karl den Großen zurück. Die Reichs-Idee ist gefallen und begraben; und wird das deutsche Volk je wieder in einem Reich vereinigt werden, so wird es ein Reich sein, das nicht eine tausendjährige, sondern nur eine dreihundertjährige Geschichte hinter sich hat.» Den neuen Tatsachen versperrte sich aber auch Jörg nicht. Eine politische Lebensgemeinschaft konnte es nach seiner Überzeugung für das katholische Deutschland nicht mit Frankreich, sondern nur mit der Großmacht geben, die sich allein noch deutsch nennen durfte: mit Preußen.
Zu den Gegnern einer kleindeutschen Lösung gehörten außer vielen süddeutschen Katholiken auch weiterhin die meisten Demokraten und der Teil der Arbeiterbewegung, der sich nicht zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein hielt. In Sachsen gründeten die Arbeiterführer August Bebel und Wilhelm Liebknecht im August 1866 eine neue, demokratische (später Sächsische Volkspartei genannte) Partei, die die Einigung Deutschlands in einer demokratischen Staatsform forderte, eine erbliche Kaiserwürde, ein Kleindeutschland unter preußischer Führung und preußische Annexionen ebenso ablehnte wie ein Großdeutschland unter österreichischer Führung. Marx und Engels hatten bisher nicht anders gedacht als Bebel und Liebknecht, waren aber «Realpolitiker» genug, um das Ergebnis des deutschen Krieges als Faktum zu akzeptieren und ihren deutschen Gefolgsleuten zu empfehlen, die neuen Grundlagen als Ausgangspunkt für Bemühungen um eine nationale Organisation des Proletariats zu nutzen.
Aus Engels’ Sicht hatte sich Bismarck mit seinem «Coup» vom April 1866, dem Vorschlag einer Bundesreform unter den Vorzeichen des allgemeinen gleichen Wahlrechts, als gelehriger Schüler Napoleons III. erwiesen und zugleich gezeigt, daß der Bonapartismus die «wahre Religion» der Bourgeoisie war. Die Bourgeoisie habe, so erläuterte Engels in einem Brief an Marx vom 13. April 18 66, nicht das Zeug, selbst direkt zu herrschen, und wo nicht wie in England eine Oligarchie Staat und Gesellschaft gegen gute Bezahlung im Interesse der Bourgeoisie leite, sei eine «bonapartistische Halbdiktatur die normale Form … Die großen materiellen Interessen führt sie durch selbst gegen die Bourgeoisie, läßt ihr aber keinen Teil an der Herrschaft selbst. Andererseits ist diese Diktatur selbst wieder gezwungen, diese materiellen Interessen der Bourgeoisie widerwillig zu adoptieren. So haben wir jetzt den Monsieur Bismarck, wie er das Programm des Nationalvereins adoptiert.»
Im Abstand von fast zwei Jahrzehnten glaubte Engels sogar, Bismarcks Politik im Jahre 18 66 eine revolutionäre Qualität bescheinigen zu können. «1866», schrieb er am 18. November 1884 an August Bebel, «war eine vollständige Revolution. Wie Preußen, nur durch Verrat und Krieg gegen das deutsche Reich, im Bunde mit dem Ausland (1840, 1756, 1795) zu etwas geworden, so hat es das preußisch-deutsche Reich nur zustande gebracht durch gewaltsamen Umsturz des Deutschen Bundes und Bürgerkrieg … Nach dem Krieg stürzte es drei Throne von ‹Gottes Gnaden› um und annexierte die Gebiete nebst dem der ex-freien Stadt Frankfurt. Wenn das nicht revolutionär war, so weiß ich nicht, was das Wort bedeutet.»
«Revolution» oder «Revolution von oben» waren Begriffe, die 18 66 viele Zeitgenossen benutzten, um Bismarcks Politik zu charakterisieren: Konservative meist mit Empörung, Liberale hingegen zustimmend. Bismarck selbst hatte während des Verfassungskonflikts gegenüber Napoleon III., als dieser ihn vor einer Revolution in Preußen warnte, erklärt: «Revolutionen machen in Preußen nur die Könige.» Am 11. August 1866 bekannte er in einem Telegramm an den General Edwin von Manteuffel: «Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als erleiden.» Bismarck bediente sich bewußt «revolutionärer», bonapartistisch anmutender Mittel wie der Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts oder auch der im Sommer 1866 erwogenen, aber nicht erfolgten Anstachelung nationaler Bewegungen in Ungarn und Böhmen. Ein «Bonapartist» aber war Bismarck nicht. Er war zu sehr märkischer Junker und treuer Diener des Hauses
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