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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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accompli» auszugehen. Der Kaiser wurde gebeten, künftig keine privaten Korrespondenzen mehr mit französischen Botschaften in anderen Hauptstädten zu führen. So begann das von Ollivier so genannte «Empire libéral».
    Von den ersten Maßnahmen der Regierung Ollivier konnte man einige in der Tat «liberal» nennen: so die Entlassung des Präfekten Haussmann, die Abschaffung «offizieller Kandidaturen» bei der Wahl der Legislative, die Aufhebung des Gesetzes über die allgemeine Sicherheit, das nach dem Attentat Felice Orsinis auf Napoleon III. im Jahre 1858 verabschiedet worden war, die Erweiterung der Pressefreiheit. Dagegen war die Entlassung des liberalen Erziehungsministers Victor Duruy eher ein Signal der Kompromißbereitschaft an die katholische Kirche und der Einsatz von Truppen gegen streikende Arbeiter der Eisenwerke von Eugène Schneider, dem Präsidenten des schwerindustriellen Comité des Forges und zugleich Präsidenten des Gesetzgebenden Körpers, in Le Creusot eine Warnung an Sozialisten und Radikale. Als Anzeichen einer Abkehr vom Freihandel ließ sich der Plan einer Untersuchung über die Auswirkungen der Zollgesetzgebung verstehen.
    Am 20. April 1870 verabschiedete der Senat die erforderlichen Verfassungsänderungen, die im wesentlichen dem Beschluß vom 8. September 1869 entsprachen und einer Antwort auf die Frage, was «Verantwortlichkeit» der Minister konkret zu bedeuten hatte, ebenso auswich wie dieser. Auf Drängen des Kaisers und entgegen dem Willen eines Teiles der Minister wurde der «Sénatus-consulte» vom 20. April dem französischen Volk zur Entscheidung vorgelegt. Die Kritiker sahen in dem Volksentscheid einen Vorstoß gegen das Prinzip der parlamentarischen Regierung, während es Napoleon III. darum ging, die eigene Macht durch einen «appel au peuple» zu festigen und Parlament und Regierung in ihre Schranken zu weisen.
    Am 8. Mai 1870 fand das erste Plebiszit seit dem November 1852 statt. Die Franzosen hatten darüber zu befinden, ob sie die seit 1860 in Kraft getretenen liberalen Verfassungsreformen des Kaisers und den Senatsbeschluß vom 20. April billigten oder nicht. Das Ergebnis war der letzte Triumph des Bonapartismus: 7,4 Millionen stimmten mit ja, 1,6 Millionen mit Nein; der republikanische Führer Léon Gambetta kommentierte den Ausgang des Volksentscheids mit den Worten: «Es ist ein Erdrutsch; der Kaiser ist stärker als je zuvor.»
    Tatsächlich hätte ein Sieg des Nein eine Staatskrise ausgelöst, ja möglicherweise das Land in ein politisches Chaos gestürzt und zur Machtergreifung der Armee geführt. Mehr politische Freiheit war im Augenblick nicht durchsetzbar und eine Ablehnung liberaler Reformen schwer zu begründen. Man konnte also am 8. Mai 1870 auch dann mit Ja stimmen, wenn man sehr viel radikalere Änderungen, vielleicht sogar die Wiederherstellung der Republik wünschte.
    Bereits im Juni zeigte sich, daß das «Empire libéral» auf einer schwachen Grundlage stand. Die Regierung Ollivier verfügte über keine verläßliche parlamentarische Mehrheit; sie mußte sich, um nicht von der republikanischen Linken abhängig zu werden, an die autoritäre Rechte anlehnen, die sich ihrerseits der tatkräftigen Unterstützung der Kaiserin Eugénie erfreute. Wäre das Kabinett gescheitert, hätte der im Juli 1869 entlassene Rouher gute Chancen gehabt, das liberale Experiment zu liquidieren. Schon um das zu verhindern, wollte Ollivier um nahezu jeden Preis an der Macht bleiben. Das Plebiszit hatte ihm, so gesehen, keine Erleichterung verschafft. Es war ein Pyrrhussieg nicht nur für ihn und das «Empire libéral», sondern auch für Napoleon III. und das politische System des Bonapartismus.[ 11 ]
    Anpassung durch Reform: England in den 1860er Jahren
    Um innere Reformen ging es in den sechziger Jahren auch in Großbritannien – genauer gesagt: um eine Reform, die des Wahlrechts. Das Wahlgesetz von 1832, die erste Reformbill, hatte einige besonders krasse Mißstände beseitigt und die Zahl der Wahlberechtigten von etwa 500.000 auf über 800.000 erhöht. Aber noch immer behielt das geltende Recht das Wahlrecht Männern vor, die über ein gewisses Einkommen verfügten, und nach wie vor wurden Counties und Kleinstädte gegenüber Großstädten und England und Wales gegenüber Schottland und Irland privilegiert. In den fünfziger Jahren hatte es von liberaler wie von konservativer Seite nur zaghafte Versuche gegeben, an diesem Zustand etwas zu ändern. 1864/65 aber wurden

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