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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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gleich zwei Organisationen gegründet, die eine Ausdehnung des Wahlrechts auf breiteste Schichten verlangten: erst die National Reform Union als Erbin der Anti-Corn Law League und dann die radikalere Reform League, in der die Gewerkschaften mitarbeiteten und John Stuart Mill, unterstützt von Florence Nightingale, für das Frauenwahlrecht agitierte.
    In dem Jahrzehnt von 1855 bis 1865, in dem Lord Palmerston fast ununterbrochen an der Spitze liberaler Kabinette stand, war mit einschneidenden Änderungen des Wahlrechts nicht ernsthaft zu rechnen. Der Historiker Wolfgang J. Mommsen hat die Ära Palmerston als «eine Art Nachsommer aristokratischer Herrschaft» bezeichnet. Ihre Spätphase war durch außenpolitische Mißerfolge gekennzeichnet: Palmerston hatte beim amerikanischen Bürgerkrieg mit den Südstaaten und beim deutsch-dänischen Krieg mit Dänemark sympathisiert, in beiden Fällen das Geschehen aber nicht in seinem Sinn lenken können. Die innere Politik Großbritanniens wurde in dieser Zeit bereits zunehmend von einem Mann bestimmt, der nicht aus der «landed aristocracy», sondern aus dem Bürgertum kam: dem ehemaligen Tory William Gladstone, der 1859 zu den Liberalen übergewechselt war und dem zweiten Kabinett Palmerston als Schatzkanzler angehörte. Von ihm durfte man erwarten, daß er, wenn die Mehrheitsverhältnisse es erlaubten, in der Wahlrechtsfrage zu neuen Ufern aufbrechen würde.
    Am 18. Oktober 1865, ein Vierteljahr nach einem liberalen Sieg in der Unterhauswahl und zwei Tage vor seinem 81. Geburtstag, starb Palmerston. Seine Nachfolge als Premierminister trat der bisherige Außenminister Lord Russell an; Gladstone blieb Schatzkanzler, wurde aber zugleich «leader of the House», das heißt Vorsitzender der liberalen Unterhausfraktion, und damit der maßgebliche Politiker der Regierungspartei. Im März 1866 legte das Kabinett auf Betreiben Gladstones dem Unterhaus einen Gesetzentwurf vor, der vorsah, daß das Wahlrecht künftig erwachsenen Männern zustehen sollte, die in den städtischen Boroughs auf mindestens 7 Pfund Sterling an jährlichen Grundsteuerleistungen (statt bisher 10 Pfund), in den Counties auf 14 (statt bisher 50) Pfund veranlagt wurden. Wäre das Gesetz in Kraft getreten, hätte einer von vier männlichen Erwachsenen über das Wahlrecht verfügt. Bisher war es nur jeder fünfte gewesen.
    Doch die Vorlage blieb ein Stück Papier, weil nicht nur die Tories, sondern auch ein Teil der liberalen Abgeordneten unter Führung von Robert Lowe und Lord Elcho ihre Wahlchancen durch die beabsichtigten Neuerungen gefährdet sahen. John Bright, der langjährige Weggefährte Richard Cobdens in der Anti-Corn Law League, Vorkämpfer des allgemeinen gleichen Wahlrechts und einer der «Radikalen» in der liberalen Unterhausfraktion, verglich die über 40 Abweichler mit jenen Männern, die der vom Propheten Samuel zum König von Israel gesalbte Hirtensohn David auf der Flucht vor König Saul in der Höhle Adullam um sich gesammelt hatte – Männer, von denen es im ersten Buch Samuel, Kapitel 22, Vers 2, hieß, sie seien «in Not und Schulden und betrübten Herzens» gewesen. Zusammen mit den Konservativen zwangen die fortan «Adullamiten» genannten liberalen Frondeure die Regierung am 12. April, die Debatte solange auszusetzen, bis sie auch ein Gesetz über die umstrittene Neueinteilung der Wahlweise vorgelegt hatte. Dies geschah am 7. Mai und hatte zur Folge, daß die Zahl der Liberalen, die ihre Unterhaussitze auf Grund der Zusammenlegung kleinerer Wahlkreise zu verlieren fürchtete, weiter wuchs. Am 18. Juni 1866 erlitt die Regierung die entscheidende Niederlage: Mit einer Mehrheit von 315 zu 304 Stimmen nahmen die Commons einen konservativen Änderungsantrag an, der durch Umstellung von Steuer- auf Mietzahlungen in den Boroughs die sozialen Barrieren des Wahlrechts wieder erhöhte. Am 26. Juni teilte Lord Russell der Königin Victoria den Rücktritt des Kabinetts mit.
    Die Nachfolge trat nicht, wie vielfach erwartet, eine Koalitionsregierung aus Tories und «Adullamiten», sondern ein rein konservatives Kabinett unter Lord Derby mit Benjamin Disraeli als Schatzkanzler an. Disraeli hatte in den Tagen zuvor hinter den Kulissen die Fäden gezogen und wesentlich zum Sturz der Regierung Russell beigetragen. Aber da die abtrünnigen Liberalen weder unter ihm noch unter Lord Derby in die Regierung eintreten oder mit den Tories sich in einer Partei vereinigen wollten, war die Bildung einer

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