Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
uns wider den mißleiteten Willen derer, die da leben, auf den Willen derer, die da waren … Die Elsässer lernten das zersplitterte Deutschland verachten, sie werden uns lieben lernen, wenn Preußens starke Hand sie erzogen hat.»
Seit der Zeit der Befreiungskriege hatte kein Autor so deutlich wie Treitschke den Gegensatz zwischen dem deutschen und dem französischen Verständnis von Nation herausgearbeitet: Die vermeintlich objektive Bestimmung der ethnischen Gruppe stand über dem subjektiven Willen der Einzelnen; Sprache und Abstammung galten mehr als die Entscheidung für ein politisches System. Der aus Ludwigsburg stammende liberale Religionswissenschaftler und Begründer der historischen Leben-Jesu-Forschung, David Friedrich Strauß, kam in einem offenen Briefwechsel mit seinem nicht minder berühmten Pariser Kollegen, dem Orientalisten Ernest Renan, zum gleichen Ergebnis wie Treitschke, wenn er auch stärker als dieser das Argument der deutschen Sicherheit betonte. Wir Deutschen, schrieb er am 29. September 1870, müßten «die größten Toren sein, wenn wir das, was unser war und was zu unserer Sicherung nötig ist (doch auch nicht weiter, als dazu nötig ist), nicht wieder an uns nehmen wollten.»
Renan, der nach eigenem Bekenntnis im deutsch-französischen Krieg das größte Unglück sah, das der Zivilisation zustoßen konnte, antwortete fast ein Jahr später, am 15. September 1871, in einem gleichfalls offenen Brief. Das Elsaß sei von der Sprache und der Rasse her deutsch, aber es wolle nicht Teil des deutschen Staates sein, und das entscheide die Frage. «Unsere Politik ist die Politik des Rechts der Nationen; Ihre ist die Politik der Rassen; wir glauben, daß unsere besser ist. Die zu sehr betonte Einteilung der Menschheit in Rassen kann, abgesehen davon, daß sie auf einem Irrtum beruht, weil nur sehr wenige Länder eine wirklich reine Rasse besitzen, nur zu Vernichtungskriegen führen, zu zoologischen Kriegen … Das wäre das Ende dieses fruchtbaren Gemisches, das aus so zahlreichen und allesamt notwendigen Elementen zusammengesetzt ist und das man Menschheit nennt. Sie haben in der Welt die Fahne der ethnographischen und archäologischen Politik anstelle der liberalen Politik erhoben; diese Politik wird Ihnen zum Verhängnis werden … Wie können Sie glauben, daß die Slawen nicht dasselbe tun, was Sie mit den anderen gemacht haben, sie, die in allem Ihnen nachfolgen?»
Ähnlich prophetisch äußerte sich Karl Marx. Solange der Krieg ein Kampf gegen das verhaßte Regime Napoleons III. war, galt die Aussage der von ihm verfaßten «Ersten Adresse des Generalrats (der Internationalen Arbeiter-Assoziation, H.A.W.) über den Deutsch-Französischen Krieg» vom 23. Juli 1870: «Von deutscher Seite ist der Krieg ein Verteidigungskrieg.» Der Untergang des Zweiten Kaiserreichs, die unmittelbare Folge der französischen Niederlage in der Schlacht von Sedan, änderte die Lage radikal. Zwei Jahrhunderte lang hatte der Mann an der Spitze Frankreichs eine Grundannahme des historischen Materialismus in Frage gestellt, wonach die moderne Staatsgewalt nur ein Ausschuß war, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltete. Napoleon III. verkörperte die verselbständigte Macht der Exekutivgewalt: ein Phänomen, das den Prämissen des Kommunistischen Manifests strikt widersprach. Der Sturz des bonapartistischen Systems mußte folglich die gesellschaftlichen Kräfte freisetzen, die unter der Herrschaft Napoleons III. an ihrer freien Entfaltung gehindert worden waren. In der neuen Phase des Klassenkampfes, die jetzt begann, würde früher oder später die Situation heranreifen, in der das Proletariat die Machtfrage stellen und durch seine Revolution die bürgerliche Klassenherrschaft abschaffen konnte: Die Gesetze der Geschichte waren also wieder in Kraft gesetzt.
Eine Zäsur bildete die Schlacht von Sedan aber auch, weil die deutschen Kriegsziele nun sehr viel klarer zu erkennen waren als zuvor. Schon Ende August hatten Marx und Engels in einem Schreiben an den Ausschuß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei deutsche Forderungen nach der Angliederung von Elsaß und Lothringen zum Anlaß für das Verdikt genommen, «daß der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland im Schoße trägt wie der Krieg von 1866 den Krieg von 1870». Der im September immer lauter werdende Ruf nach der Annexion von Elsaß und Lothringen nahm dem Krieg den Charakter des
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