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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Fortschrittspartei und die Sozialisten für zu wenig demokratisch. Aus den Reihen der drei Gruppierungen in der Schlußabstimmung des Norddeutschen Reichstags über den Vertrag mit Bayern kamen am 9. Dezember 1870 die 32 Nein-Stimmen. Die Nationalliberalen stimmten trotz aller Bedenken zu, ebenso die Freikonservativen und die Konservativen, so daß der Vertrag eine breite Mehrheit erhielt: 195 der anwesenden 227 Abgeordneten stimmten mit Ja. Tags darauf nahm der Reichstag die am 9. Dezember vom Bundesrat beschlossene erste Verfassungsänderung an: An die Stelle des Begriffs «Deutscher Bund», wie er noch in den Novemberverträgen enthalten war, trat das «Deutsche Reich»; aus dem Bundespräsidium wurde der «Deutsche Kaiser».
    Um König Ludwig II. von Bayern mit der Übernahme des Titels «Deutscher Kaiser» durch den König von Preußen zu versöhnen, floß Geld aus dem «Welfenfonds», dem beschlagnahmten Vermögen des ehemaligen Königs von Hannover, nach München. Auch bei Altpreußen, an ihrer Spitze König Wilhelm I., gab es bis zuletzt schwere Bedenken gegen das deutsche «Scheinkaisertum», das den Glanz der preußischen Krone zu verdunkeln drohe. Im Reichstag aber stimmten nur die anwesenden sechs Sozialdemokraten und Lassalleaner gegen «Kaiser» und «Reich». Von Sozialisten, unbeirrten Großdeutschen, süddeutschen Partikularisten und altpreußischen Legitimisten abgesehen, boten die Begriffe allen etwas. Die Deutschen in den Klein- und Mittelstaaten durften das Gefühl haben, daß das neue Gebilde mehr war als nur ein Großpreußen; die Katholiken mochten an das Alte Reich, die Demokraten an das Erbe von 1848 denken. Die Nationalliberalen, von denen nicht wenige wegen der mittelalterlichen und großdeutschen Anklänge dem Kaisertitel zunächst abgeneigt waren, hofften darauf, daß die nationale Monarchie der Hohenzollern den deutschen Partikularismus endgültig überwinden würde. Die meisten preußischen Konservativen empfanden Stolz auf den Macht- und Prestigegewinn ihres Herrscherhauses, glaubten aber nicht ernsthaft, daß Preußen in Deutschland aufgehen könne.
    Am 10. Dezember 1870 nahm der Norddeutsche Reichstag gegen sechs Stimmen aus den Reihen der Sozialdemokraten und Lassalleaner sowohl die Änderungen der Verfassung an, die sich aus der Einführung der Begriffe «Kaiser» und «Reich» ergaben, wie auch einen Antrag Eduard Laskers, in dem König Wilhelm I. gebeten wurde, durch «Annahme der Kaiserwürde das Einigungswerk zu weihen». Formell entstand das Deutsche Reich am 1. Januar 1871 durch Verkündung der Verträge zwischen dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten im Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes – allerdings noch ohne Bayern. Dort wurde der Ratifizierungsprozeß nach heftigen Debatten in der zweiten Kammer erst am 21. Januar 1871 mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit abgeschlossen, woraufhin König Ludwig II. die Verträge am 30. Januar rückwirkend zum 1. Januar 1871 in Kraft setzte.
    Als «Reichsgründungstag» galt indessen schon damals der 18. Januar 1871. Auf den Tag genau 170 Jahre nach der ersten Krönung eines Königs von Preußen in Königsberg wurde Wilhelm I. im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser proklamiert. Parlamentarier waren bei diesem feierlichen Akt nicht zugegen, wohl aber Fürsten, Prinzen und das Militär. Einer der Offiziere, die an der Zeremonie teilnahmen, war der damals dreiundzwanzigjährige Paul von Hindenburg, der 62 Jahre später, am 30. Januar 1933, als Reichspräsident den Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernennen sollte.
    Der vorläufige Friede mit Frankreich wurde, nachdem im ganzen Land, auch im Elsaß und in Lothringen, eine Nationalversammlung gewählt worden war, am 26. Februar 1871 in Versailles unterzeichnet. Darin trat Frankreich das Elsaß und einen Teil Lothringens, mit Einschluß des Gebiets um Metz, an das Deutsche Reich ab. Am 1. März nahm die Nationalversammlung den Vertrag gegen die Proteste Victor Hugos und der in den abzutretenden Gebieten gewählten Abgeordneten, darunter Léon Gambetta, an. Am 10. Mai 1871 wurde der endgültige Friedensvertrag in Frankfurt am Main unterzeichnet.
    Drei Wochen nach der Kaiserproklamation in Versailles, am 9. Februar 1871, bemühte sich Benjamin Disraeli, der Führer der konservativen Opposition im britischen Unterhaus, um eine historische Einordnung des deutsch-französischen Krieges. Dieser

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