Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
den Main nicht hinnehmen konnte. Für einen erfolgreichen Krieg aber war ein hohes Maß an nationaler Geschlossenheit in Deutschland notwendig, und diese Voraussetzung war Anfang 1870 nach Bismarcks wohlbegründeter Meinung noch nicht gegeben. Die Lage konnte sich aber rasch zugunsten Preußens ändern, wenn ein Anlaß vorhanden war, der den Deutschen nördlich und südlich des Mains einen Krieg mit der Großmacht im Westen als notwendig und gerecht erscheinen ließ. Im Februar 1870 mochte Bismarck bereits ahnen, daß eine solche Situation schon in naher Zukunft eintreten konnte.
Die Vorgeschichte des Ereignisses, das zu einer schweren diplomatischen Krise zwischen Paris und Berlin und schließlich zum deutschfranzösischen Krieg von 1870/71 führen sollte, hatte im September 1868 mit einer Revolution in Spanien begonnen, die halb traditionelles «pronunciamiento», also ein Militärputsch, halb Volksaufstand mit lebhafter Beteiligung der Arbeiterschaft war. Der Sieg der Aufständischen veranlaßte die abgesetzte Königin Isabella II., sich am 30. September mit ihrer Familie ins Exil nach Frankreich zu begeben. Auf der Suche nach einem neuen König griff der Ministerpräsident, General Prim, den Gedanken auf, dem katholischen Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen den vakanten Thron anzutragen. Im Februar 1870 erging eine entsprechende Anfrage an König Wilhelm I. von Preußen als Oberhaupt der Familie Hohenzollern.
Der aktivste Förderer der spanischen Thronkandidatur war von Anfang an Bismarck. Das außenpolitische Risiko des Plans kann dem erfahrenen Staatsmann nicht verborgen geblieben sein: Eine hohenzollernsche Umklammerung mußte Frankreich als ebenso bedrohlich empfinden wie die habsburgische, die man seit der Zeit Kaiser Karls V. im 16. und 17. Jahrhundert erlebt hatte. Wenn Leopold sich tatsächlich anschickte, dem Ruf aus Madrid zu folgen, lag Krieg also förmlich in der Luft.
Die Chance, die in dem Angebot des spanischen Ministerpräsidenten lag, war offenkundig: Ein geharnischter Pariser Protest gegen das Vorhaben, einen Hohenzollernprinzen auf den spanischen Königsthron zu setzen, war geeignet, eine nationale Bewegung in Deutschland zu entfachen. Mit deutschem Patriotismus konnte man sowohl dem Partikularismus in Bayern und Württemberg als auch dem Parlamentarismus im Norddeutschen Bund entgegenwirken. 1871 lief die 1867 vereinbarte provisorische Regelung des Militäretats aus. Die Nationalliberalen zeigten sich nicht bereit, einem neuen Provisorium zuzustimmen, und bestanden auf der jährlichen Bewilligung des Heeresbudgets. Kam es zu einem populären Krieg mit Frankreich, durfte man damit rechnen, daß die Nationalliberalen sich wieder Bismarck anschließen und ihr Drängen auf mehr Parlamentsrechte zurückstellen würden. Es sprach also viel dafür, daß sich zugleich mit dem Pariser Widerstand gegen eine Einigung Deutschlands auch die partikularistischen und die parlamentarischen Widerstände gegen Bismarcks Politik ausräumen lassen würden.
Am 30. Juli 1892, zwei Jahre nach seiner Entlassung, hat Bismarck in einer Rede vor einer Abordnung der Universität Jena unverblümt davon gesprochen, daß der französische Krieg «notwendig» gewesen sei. «Ohne Frankreich geschlagen zu haben, konnten wir nie ein Deutsches Reich mitten in Europa errichten und zu der Macht, die es heute besitzt, erheben.» Aus dieser Einschätzung heraus fand sich der Bundeskanzler auch nicht damit ab, daß Fürst Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen und sein Sohn Leopold am 20. April die spanische Offerte ablehnten. Er tat vielmehr alles, um den Erbprinzen umzustimmen. Am 19. Juni gab Leopold die gewünschte Erklärung ab, band sie aber an die Bedingung, daß König Wilhelm als Chef des Hauses Hohenzollern zustimmte. Zwei Tage später fügte sich der König von Preußen, der der Thron-Kandidatur des Sigmaringers bisher ablehnend gegenüber gestanden hatte, dem Drängen seines Ministerpräsidenten und Kanzlers. Am 2. Juli informierte General Prim den französischen Botschafter vom Stand der Dinge und gab damit die bislang gewahrte Geheimhaltung auf. Die «spanische Bombe» war geplatzt.
Die Antwort aus Paris ließ nicht lange auf sich warten. Am 6. Juli 1870 erklärte Außenminister Antoine Duc de Gramont in der Kammer, seine Regierung glaube nicht, «daß eine fremde Macht, indem sie einen ihrer Prinzen auf den Thron Karls V. setzt, dadurch zu ihrem Vorteil das gegenwärtige Gleichgewicht der Mächte Europas
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