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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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wurden.
    Der Senat und die Deputiertenkammer wirkten bei der Einbringung und Ausführung der Gesetze zusammen. In gemeinsamer Sitzung wählten sie zusammen den Präsidenten der Republik, dessen Amtszeit sieben Jahre betrug und der einmal wiedergewählt werden konnte. Der Präsident besaß wie die beiden Kammern das Recht der Gesetzesinitiative. Er traf Verfügungen über die bewaffnete Macht. Bei Kriegserklärungen war er auf die vorherige Zustimmung beider Kammern angewiesen. Mit Zustimmung des Senats durfte er die Deputiertenkammer vor Ablauf ihrer gesetzlichen Wahlperiode auflösen. Er ernannte die Inhaber aller Zivil- und Militärämter, also auch die Minister. Die Minister waren den Kammern kollektiv für die allgemeine Politik und individuell für ihre eigenen Amtshandlungen verantwortlich.
    Auf einen starken Präsidenten hatten vor allem die Orleanisten gedrängt und sich dabei weitgehend durchgesetzt. Wer sich aber im Konfliktfall behaupten würde, Präsident oder Parlament, ließen die erstaunlich lückenhaften Verfassungsgesetze von 1875 offen. Ein Machtkampf wurde wahrscheinlich, als bei den Wahlen vom Februar 1876 die Republikaner die Mehrheit in der Deputiertenkammer eroberten. Am 16. Mai 1877, dem berühmten «Seize Mai», überschritt Präsident Mac-Mahon den Rubikon: Er entließ das von dem gemäßigten Republikaner Jules Simon, dem ersten jüdischen Regierungschef Frankreichs, geführte Kabinett und ernannte erneut den Herzog von Broglie zum Präsidenten des Rates, dem faktischen Ministerpräsidenten. Die Republikaner nahmen die Herausforderung an und zogen mit antiklerikalen Parolen in den Wahlkampf, aus dem sie, wenn auch leicht geschwächt, als Sieger hervorgingen.
    Formal hatte Mac-Mahon mit seiner Aktion vom 16. Mai 1877 die Verfassung nicht verletzt, der Sache nach waren der Regierungswechsel und die Auflösung der Deputiertenkammer ein Putsch mit dem Ziel der Errichtung eines Präsidialregimes. Der Fehlschlag des Versuchs hatte weitreichende Folgen. Nachdem die Wähler den präsidialen «appel au peuple» durch die Bestätigung der republikanischen Kammermehrheit negativ beantwortet hatten, konnte Mac-Mahon sich nur noch dank der konservativen Mehrheit im Senat im Amt behaupten. Als nach Teilwahlen Anfang Januar 1879 auch hier die Republikaner die Mehrheit gewannen, trat der Präsident am 30. Januar zurück. Zum Nachfolger Mac-Mahons wurde der gemäßigte Republikaner Jules Grévy gewählt. Die Republikaner hatten die Machtprobe für sich entschieden. Bis zum Ende der Dritten Republik im Jahre 1940 hat kein Präsident der Republik mehr gewagt, die Deputiertenkammer aufzulösen. Ohne formelle Verfassungsänderung verwandelte sich Frankreich 1879 in eine parlamentarische Demokratie.
    Die «République des ducs» (Republik der Herzöge), wie man das weithin von den Monarchisten bestimmte System der Jahre 1871 bis 1877 genannt hat, war an ihr Ende gelangt. Es begann die Zeit der «opportunistischen Republik», in der nicht mehr Großbourgeoisie und Adel, sondern «Notabeln» aus den «nouvelles couches», den neuen Mittelschichten, vor allem Rechtsanwälte und Journalisten, den Ton angaben und die rasch wechselnden Regierungen sich ihre Mehrheiten einmal links und einmal rechts der Mitte suchten. Da Mißtrauensanträgen keinerlei Riegel vorgeschoben war, konnte man auch nach 1879 von politischer Stabilität nicht sprechen. Aber eine gewisse Beruhigung trat nach dem Scheitern des «Seize Mai» doch ein. Etwas über acht Jahre nach der Proklamation der Republik im Oktober 1870 stand fest, daß der Dritten Republik politische Legitimität zugewachsen war. Die Ereignisse der Jahre 1877 bis 1879 führten zu einer republikanischen Umgründung der Republik: dem Gegenteil dessen, was die Urheber des Quasi-Putsches von 1877 gewollt hatten.[ 14 ]
    Kulturkampf: Staat und Kirche im Widerstreit
    Hätten im Frankreich der siebziger Jahre nicht klerikale und konservative Kräfte bestimmenden Einfluß auf die Politik gehabt, wäre die Dritte Republik gewiß zu einem frühen Schauplatz jenes «Kulturkampfes» zwischen dem Staat und der katholischen Kirche geworden, der um diese Zeit in mehreren Ländern Europas mit großer Härte geführt wurde. Von einem «Kulturkampf» sprach in diesem Zusammenhang als erster der berühmte Mediziner und linksliberale Politiker Rudolf Virchow am 17. Januar 1873 im preußischen Abgeordnetenhaus. Begonnen hatte die neue Phase des alten Ringens zwischen geistlicher und weltlicher

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