Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Italien bemühte sich trotzdem um Entgegenkommen: Im Mai 1871 verabschiedete das Parlament die «Garantiegesetze», mit denen das Königreich Italien das Verhältnis zwischen Staat und Kirche einseitig regelte. Die Gesetze sprachen dem Papst Heiligkeit, Unverletzlichkeit und Souveränität zu und sicherten die Immunität der apostolischen Paläste und seines Sommersitzes in Castelgandolfo. Außerdem verzichtete der Staat auf seine Rechte bei der Ernennung der Bischöfe und deren Treueid. Der Papst sollte eine Dotation von 3 225.000 Lire erhalten, die Pius IX. aber ablehnte. Er hielt auch an seinem Exkommunikationserlaß fest und vertiefte den Gegensatz zum Königreich Italien mit seinem Dekret «Non expedit» von 1874: Es untersagte den gläubigen Katholiken jede Teilnahme an den Wahlen. Das Wahlverbot, das erst 1905 gelockert und 1918 aufgehoben wurde, spaltete Italien auf unheilvolle Weise. Die Selbstausschaltung des Katholizismus verhalf rechten und linken Antiklerikalen zu parlamentarischen Mehrheiten, die nicht dem Mehrheitswillen der Bevölkerung entsprachen. Auf diese Weise trug das Dekret von 1874 dazu bei, die Kluft zwischen dem «paese legale» und dem «paese reale» zu vertiefen: eine schwere Vorbelastung des jungen italienischen Nationalstaates.
Das katholische Spanien erlebte um die gleiche Zeit seinen eigenen Kulturkampf. Die nach der Revolution von 1868 eingeführte völlige Freiheit des Unterrichts wurde 1875 auf Druck der katholischen Kirche und der Klerikalen von der konservativen Regierung Antonio Cánovas del Castillos stark eingeschränkt. In der liberalen Ära von 1881 bis 1883 wurde der entsprechende Erlaß wieder zurückgenommen. In der Folgezeit hing der Grad der Unterrichtsfreiheit davon ab, ob gerade Liberale oder Konservative an der Macht waren. In Portugal fand der Kulturkampf erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts statt; an seinem Ende standen die Trennung von Staat und Kirche im Jahre 1911 und die Ausweisung des päpstlichen Nuntius zwei Jahre später. Im katholischen Belgien, dem liberalen «Musterland» Europas, war der Kulturkampf der Jahre 1878 bis 1884 ein Kampf um den Vorrang der weltlichen oder der katholischen Schule. Er endete mit einer schweren Wahlniederlage der Liberalen im Jahre 1884 und einem von der neuen katholischen Regierung durchgesetzten Schulgesetz, das das Nebeneinander von Gemeinde- und «freien», das heißt katholischen, Schulen auf eine neue Grundlage stellte.
Im cisleithanischen Österreich standen die drei, vom Papst scharf kritisierten, «Maigesetze» von 1868 über Ehe, Schule und interkonfessionelle Verhältnisse am Beginn eines «Kulturkampfes» avant la lettre. Die Maigesetze waren das Werk des liberalen «Bürgerministeriums» unter Führung des Grafen Carlos Auersperg. Es folgten im Mai 1869 ein Reichsvolkschulgesetz, das die achtjährige interkonfessionelle Pflichtschule einführte, im Sommer 1870 die schon erwähnte Kündigung des Konkordats und 1874, unter der Verantwortung des gleichfalls liberalen Ministeriums von Fürst Adolf Auersperg, einem Bruder von Carlos, die vom Geist des Josephinismus geprägten Gesetze über die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der katholischen Kirche, über die Beiträge des geistlichen Pfründenvermögens zum Religionsfonds und über die gesetzliche Anerkennung der Religionsgesellschaften. Später als in Österreich, nämlich erst in der «opportunistischen Republik» nach 1879, begann in Frankreich der Kulturkampf. Darauf, wie auf den Kulturkampf im Deutschen Reich, wird noch zurückzukommen sein.
Das «Vatikanum» hat die Kulturkämpfe in Europa nicht ausgelöst, wohl aber viel zu der erbitterten Schärfe beigetragen, mit der sie nach 1870 ausgetragen wurden. Die Protagonisten waren die Liberalen und die mit ihnen kooperierenden weltlichen Regierungen überwiegend katholischer oder gemischtkonfessioneller Staaten auf der einen, die Kurie, der katholische Klerus und die kirchentreuen Katholiken auf der anderen Seite. Es ist müßig zu fragen, ob die liberale beziehungsweise weltliche oder die katholische Seite den Konflikt begonnen hat: Der Gegensatz war um 1870 längst ein historischer, die Auseinandersetzungen zwischen beiden «Lagern» nicht vermeidbar, wenn die Liberalen liberal, die Nationalstaaten souverän und die katholische Kirche päpstlich bleiben wollten. Der Kulturkampf revolutionierte in manchen Ländern das Parteiensystem: Die Herausbildung fest organisierter katholischer Parteien schwächte
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